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12
Dez.
Essay: Macht der Machtlosen

Warum Menschen Macht nicht ergreifen – Unsere Schöne Neue Welt

von Ahmet Aygün

Es ist ein archaischer Moment, der die Essenz von Macht offenbart: Der Triumph des Lebenden über den Getöteten, wie es der Schriftsteller Elias Canetti beschreibt. Der Sieger, der seine Überlegenheit feiert, erlebt Macht in ihrer reinsten Form – sichtbar im Akt des Überlebens. Doch dieser Moment erzählt nur eine Seite der Geschichte. Was bleibt, ist die unsichtbare Ohnmacht des Besiegten, eine Stille, die in ihrer Tiefe erdrückend ist. Doch kann man von Ohnmacht sprechen, wenn der Besiegte seiner Situation nicht mehr bewusst ist? Oder beginnt Machtlosigkeit erst dort, wo der eigene Wille spürbar eingeschränkt wird?

Abseits dieser extremen Szenarien erleben wir im Alltag der modernen Welt eine subtilere und veränderte Dialektik zwischen Macht und Ohnmacht. Während in vergangenen Zeiten das Streben nach Macht oft durch Gewalt geprägt war, bieten heutige Gesellschaften andere Wege zur Machterlangung: politische Teilhabe, soziale Anerkennung, wirtschaftliche Sicherheit. Der technische Fortschritt hat den Kampf ums bloße Überleben abgelöst. Dennoch bleibt das Gefühl von Ohnmacht für viele ein beständiger Zustand, obwohl die Wege und Möglichkeiten, Macht zu erlangen, zahlreicher und weniger von körperlicher Stärke abhängig sind. Denn die heutigen Strukturen entwickelter Länder bieten Chancen und Möglichkeiten, Macht zu ergreifen, Ressourcen zu mobilisieren und Einfluss auf das soziale und politische Geschehen zu nehmen – theoretisch für eine breite Bevölkerungsschicht zugänglich. Doch häufig bleiben Individuen und Gruppen in einem Zustand der Ohnmacht, ohne die Mittel zu nutzen, die ihnen zur Verfügung stehen. Warum entscheiden sich Menschen, nicht aktiv nach Macht zu streben, und warum verharren sie manchmal sogar bewusst in Machtlosigkeit?

In Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ wird die Frage, warum Menschen die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nicht ergreifen, um Macht zu gewinnen, auf beunruhigende Weise dargestellt. Die dystopische Gesellschaft, die Huxley entwirft, illustriert eindrucksvoll, wie eine technologische und ideologische Kontrolle die Menschen in einen Zustand permanenter Machtlosigkeit versetzt. Erstaunlicherweise verspüren die meisten Individuen in dieser Gesellschaft keinerlei Wunsch, aus dieser Machtlosigkeit auszubrechen. Stattdessen akzeptieren sie diese nicht nur, sondern empfinden sie als notwendig für ihr Glück und ihre Stabilität. Huxleys Werk bietet somit ein extremes Beispiel dafür, wie Machtlosigkeit bewusst kultiviert werden kann, um eine scheinbar harmonische, aber tiefgehend kontrollierte Gesellschaft zu schaffen.

Also bleibt das Individuum in einem Zustand der Machtlosigkeit, weil die Gesellschaft so strukturiert ist, dass das Streben nach Macht und Einfluss als unnötig und sogar schädlich angesehen wird. Eine der Hauptursachen für diese passive Akzeptanz ist die umfassende konditionierte Zufriedenheit, die von den Menschen von klein auf eingetrichtert wird. Die Bürger werden nicht nur biologisch, sondern auch psychologisch so geprägt, dass sie ihre vorbestimmten Rollen als „Alphas“, „Betas“, „Gammas“ oder „Epsilons“ als optimal und erstrebenswert betrachten. Diese Prägung führt dazu, dass der Drang, Macht zu ergreifen oder soziale Veränderungen herbeizuführen, als überflüssig und verpönt wahrgenommen wird. Stattdessen begnügen sich die Menschen mit ihrem Leben und den ihnen zugewiesenen Funktionen, die durch ein System von Belohnungen und Bestrafungen stabilisiert werden.

Ein weiterer zentraler Aspekt, warum Menschen in dieser Welt keine Macht ergreifen, ist die omnipräsente Angst vor Unbehagen und Instabilität. Huxleys Gesellschaft hat einen starken Fokus auf Konsum und Genuss, und die Bürger sind darauf trainiert, ihre Emotionen und Bedürfnisse durch Drogen wie „Soma“ zu regulieren. Diese Droge verhindert nicht nur Unruhe und Leid, sondern sorgt auch dafür, dass die Menschen in einem dauerhaften Zustand der Zufriedenheit und Ablenkung bleiben.

Die Mechanismen der Machtlosigkeit, die Huxley beschreibt, finden in unserer modernen Welt durchaus Entsprechung. In Zeiten von Überwachung, Konsumkultur und der ständigen Verfügbarkeit von Informationen sehen sich viele Menschen in einer ähnlichen Situation: Sie können zwar theoretisch Einfluss nehmen, doch häufig werden sie durch soziale Normen, wirtschaftliche Zwänge und die Angst vor Unsicherheit davon abgehalten, aktiv zu werden. Die psychologische Bequemlichkeit, die Huxley schildert, ist auch in unserer gegenwärtigen Gesellschaft noch präsent, wenn es darum geht, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen oder gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen.

“They will do it by bypassing the sort of rational side of man and appealing to his subconscious and his deeper emotions, and his physiology even, and so, making him actually love his slavery.”¹

Um die Frage zu beantworten, warum Menschen nicht nur unreflektiert in einem Zustand der Ohnmacht verharren, sondern manchmal auch bewusst Macht nicht ergreifen wollen, lässt sich auf unterschiedliche Mechanismen zurückführen, die sowohl individuell als auch strukturell wirken. In modernen Gesellschaften ist Macht stark institutionalisiert, und Individuen sind Teil großer, hierarchischer Systeme, in denen Entscheidungen stufenweise von oben nach unten durchgesetzt werden. Bürokratien zeichnen sich durch eine Vielzahl von Regeln, Vorschriften und eine strikte Arbeitsteilung aus, was dazu führt, dass der Einzelne kaum direkten Einfluss auf Entscheidungsprozesse hat. Die Rationalität und Effizienz dieser Strukturen bewirken, dass Menschen sich in ihre festgelegten Rollen einfügen – als funktionierendes Zahnrad einer komplexen Maschinerie. Durch die auf dem Arbeitsplatz wirkende Disziplinarmacht fühlt sich der Einzelne innerhalb dieser starren Strukturen oft machtlos und resigniert, da kontrollierte Macht hier als etwas unsichtbares erscheint, dem man überall ausgesetzt ist. Nach Feierabend tritt der Einzelne in eine Umgebung ein, die durch ständige Ablenkungen in Form von Konsum, Unterhaltung und einer allgegenwärtigen Informationsflut geprägt ist. Es erscheint bequemer, in der persönlichen Komfortzone zu verharren, anstatt sich dem Unbehagen und den Risiken zu stellen, die soziales Engagement und die Auseinandersetzung mit Machtkämpfen mit sich bringen.

Dass Macht tatsächlich nicht nur “von oben” kommt, sondern in den Situationen von Möglichkeiten und Nicht-Möglichkeiten Ausdruck findet, spiegelt sich auch in der Auffassung des Philosophen und Historikers Michel Foucault wider, welcher bekannt ist für seine Machtanalyse. Nach seiner Theorie erscheint die Macht im modernen Staat in einer dezentralisierten Form, die eher wie ein allumfassendes Netz wirkt. Die Macht ist nicht mehr traditionell in den Händen eines Souveräns oder einer einzelnen Institution gebündelt, sondern “vollzieht sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen“². Diese Netzwerke der Macht, welcher Foucault als Disposition bezeichnet, sind für ihn nicht nur Ausdrücke der Repression, sondern auch Strategien zur Formung und Gestaltung von Individuen. Macht ist also produktiv. In dem verschiedene Instanzen – wie Polizei, Bildung und Justiz, aber auch kulturelle Normen und Diskurse – miteinander verbunden sind, lenkt der Staat weniger durch offene Gewalt oder sichtbaren Zwang, sondern vielmehr durch subtile Mechanismen der Disziplinierung, die tief in das alltägliche Leben eingreifen. Diese Mechanismen etablieren gesellschaftliche Normen sowie Vorstellungen davon, was „normal“ oder „richtig“ ist.

„Die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.“³

Wir verstehen Macht nicht als etwas, dem wir entkommen können. Stattdessen ist es so, dass wir uns nie gänzlich aus Machtstrukturen zurückziehen können; wir wechseln lediglich von einer Struktur zur nächsten. Das Einzige, was wir tatsächlich erreichen können, ist die Machtbeziehung zu verändern, umzukehren oder zu verlagern. Dies kann sogar bedeuten, dass wir unsere eigene Machtstruktur bewusst oder unbewusst aufbauen. Wir färben die Macht und nehmen Teil an den Wechselwirkungen, die unser Leben prägen. Letztendlich ist Macht etwas, das allgegenwärtig zu sein scheint, unabhängig davon, wer sie ausübt und wer nicht.

Die Kontrolle und Zufriedenheit, die in Huxleys dystopischer Gesellschaft kultiviert werden, schaffen nicht nur Unfreiheit, sondern auch eine Form von Glück und Stabilität, die von vielen als höherer Wert angesehen wird. Der Zwang zur aktiven Teilhabe kann eine Belastung sein, und ein Streben nach individueller Macht könnte das Bedürfnis nach Ruhe und innerem Frieden kompromittieren. Gesellschaftliche Diskurse, Institutionen und Normen prägen die Wahrnehmung der Menschen und erwecken den Eindruck, dass sie keine Macht besitzen – eine Illusion, die durch Konsum und Ablenkung verstärkt wird, die zugrunde liegenden Mechanismen der Kontrolle zu erkennen oder zu hinterfragen. Das Hinterfragen der eigenen Ohnmacht wird also von vornherein dadurch erschwert, dass eine tiefe Entfremdung und ein mangelndes Bewusstsein für eigene Handlungsmöglichkeiten besteht. Der ohnmächtige Mensch müsse sich also in einem neuen, übergeordneten Zustand wiederfinden, um dieses Gefühl der Machtlosigkeit abzulegen. Dieser übergeordnete Zustand könnte darin bestehen, dass Menschen ihre Handlungsmöglichkeiten erkennen, ohne sie zwanghaft ausüben zu müssen, und zugleich die Sicherheit und Stabilität zu schätzen wissen, die durch disziplinierende Strukturen geboten werden. Es erfordert, sich bewusst zu machen, welchen Einflüssen man ausgesetzt ist, und mit gestärktem Willen die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, anstatt sich fremdbestimmt lenken zu lassen. Doch wie kann der Mensch diesen übergeordneten Zustand dauerhaft und nachhaltig erreichen?

Letztlich ist eines klar: sich aus diesem Netz der Machtbeziehung zu befreien, scheint unmöglich zu sein, denn dies ist, wie auch Foucault bekräftigt, eine historische Tatsache der modernen Gesellschaft und kann nicht durch einen einfachen Akt der Befreiung aufgelöst werden. Stattdessen könnte die Reflexion über diese Machtstrukturen und eine bewusste Haltung ihnen gegenüber eine Form von Freiheit darstellen, die nicht auf vollständiger Unabhängigkeit beruht, sondern auf einer bewussten und friedlichen Integration in das gesellschaftliche Gefüge. Auf diese Weise verbleibt die Ohnmacht nicht mehr als Dauerzustand und der Mensch kann seine Entscheidungen auch als “seine” ansehen. Wirkliche Freiheit liegt nicht in der Illusion, sich aus Machtstrukturen vollständig lösen zu können, sondern in der Fähigkeit, sich ihrer bewusst zu werden und sie konstruktiv zu gestalten. Die gegenwärtige, modernisierte Gesellschaft, wie sie insbesondere in Großstädten anzutreffen ist, bietet sowohl Chancen als auch Herausforderungen. Einerseits kann sie durch Informationsüberflutung und schnelle Lebensrhythmen das Gefühl von Kontrolle mindern und so zu Passivität und Ohnmacht führen. Andererseits eröffnet sie zahlreiche Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und Einflussnahme. Beispiele hierfür sind die Nutzung sozialer Medien, flexible Arbeitsmodelle und innovative Bildungswege, die den Menschen neue Freiheiten und Gestaltungsspielräume bieten.

Ob sich eine Balance zwischen Anpassung und Veränderung, zwischen Abhängigkeit und Gestaltungskraft finden lässt, hängt davon ab, ob der Mensch bereit ist, sein Verständnis vom angestrebten Glück kritisch zu hinterfragen. Soll das angestrebte Glück auf der Maximierung von Lust und der Vermeidung von Leid basieren, oder vielmehr auf persönlicher Weiterentwicklung und der Verwirklichung eines höheren Lebenssinns? Es bleibt die zentrale Frage, wonach der Mensch strebt und wie er seine Potenziale zur Gestaltung seiner Welt nutzt.

 Einzelnachweise

  1. https://www.youtube.com/watch?v=hKvZdKQG8wU Zugriff: 1.11 
  2. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Erster Band. Der Wille zum Wissen. Aus dem Französischen v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1977, S. 115 
  3. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Erster Band. Der Wille zum Wissen. Aus dem Französischen v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1977, S. 114 

Literatur

  1. Huxley, Aldous. (2014): Schöne neue Welt. Fischer Verlag 
  2. Foucault, Michel (2022): Überwachen und Strafen. Suhrkamp Verlag 


26
Sep.
Themenabend: Ein interreligiöser Dialog der Taten statt der Worte

von Dr. Muhammad Sameer Murtaza

Das Tragen eines Kreuzes diskriminiert niemanden, das Tragen eines Kopftuchs schon. (…) Wenn jemand das Kreuz anzieht, ist er trotzdem ein Teil der Gemeinschaft. (Susanne Schröter)¹

Wir können die [Migranten] nachher immer noch alle erschießen. Das ist überhaupt kein Thema. Oder vergasen, oder wie du willst. Mir egal! (Christian Lüth)²

Es ist sicherlich keine Übertreibung zu schreiben, dass in den vergangenen 30 Jahren der interreligiöse Dialog als Allheilmittel zur Beilegung gesellschaftlicher Konflikte in religionspluralen Gesellschaften angepriesen wurde. Doch nach Jahrzehnten unzähliger Dialoginitiativen und -projekte sowie der Erzeugung einer Dialogindustrie um den Dialogwillen wachen wir in einer Welt auf, in der eben nicht die Dialogbefürworter und Dialogwortführer, die Konfliktvermeider und Konsensfürsprecher die Macher und Gestalter dieser Welt sind, sondern jene, die provozieren, die die Auseinandersetzung suchen, tatkräftig entscheiden und sich mit einer Ellbogenmentalität durchsetzen. Gerade Muslime reiben sich verwundert die Augen, da sie trotz all ihrer Dialogbemühungen die Erfahrung von Muslimfeindlichkeit machen, sowohl individuell als auch strukturell. Woran liegt das? Braucht es noch mehr Dialog?
Die Brücke wurde zur Metapher des Dialogs zwischen den Religionen. Übersehen wurde jedoch, dass ein solcher Brückenschlag am Ende etwas erfordert, das keine Seite zu vollbringen vermag: ein Übersetzen auf die andere Seite. Die zweipolige Metapher lässt allenfalls eine Begegnung in der Mitte über dem Abgrund des Misstrauens und des Missverstehens zu, doch am Ende kehrt jeder zu seinem Ursprung zurück. Und was geschieht mit der Welt?
Im Laufe der Zeit entstehen an Brücken Mängel und Schäden, sodass sie saniert werden müssen. Das verschlingt auf beiden Seiten Kapazitäten und die wertvolle Ressource Zeit bis schließlich jener Tag kommt, an dem jegliche Sanierungsarbeiten mehr Aufwand als Nutzen bedeuten. Die Folge: Die Brücke wird eingerissen.
Brücken bieten langfristig nicht genug Standfestigkeit für die dynamischen und turbulenten Prozesse, denen sie ausgesetzt werden. Daher ein Alternativvorschlag: Hinabsteigen in den Abgrund mit offenem Ausgang. Dort unten im Chaos von Idealen und pervertierten Idealen, von humanen und inhumanen Normen, von Vertrautheit und Fremdheit, Deckungsgleichheit und unüberbrückbaren Differenzen, Vielsprachigkeit und Spannungsfeldern, Verstehen und Nichtverstehen, Ungleichzeitigkeit und Transfer, Identität und Universalität, Selbstbild und Widersprüchlichkeit, Aushandlung und Macht können gemeinsame Kontaktzonen ausgelotet werden, die einen Weg in ein unentdecktes Land ebnen: die gemeinsame Zukunft.³ Doch was bedeutet dies nun genau? Wie sollte ein fruchtbarer Dialog der Theorie nach gestalten sein?

Der Dialog in der Theorie

Der Freund des Gespräches aber ist der Freund des Friedens, der nur auf dem Gespräch der Menschen miteinander ruhe kann. (Richard von Weizsäcker)⁴

Dialogfähigkeit ist im letzten eine Tugend der Friedensfähigkeit. (…) Wo Dialoge abgebrochen wurden, brachen Kriege aus, im Privaten wie im Öffentlichen. Wo das Gespräch scheiterte, setzten die Repressionen ein, regierte das Faustrecht des Mächtigeren, Überlegeneren, Cleveren. Wer Dialog führt, schießt nicht. (Hans Küng)⁵

Kein Mensch ist eine Insel. Wir sind eingebettet in unsere Familien, Freundeskreise und oftmals auch in eine Religionsgemeinschaft. Bei Letzterer handelt es sich um einen Zusammenschluss von Menschen, die in ihrer Weltanschauung, ihren Werten und Normen einen hohen Grad an Übereinstimmung aufweisen, wodurch ein ganz besonderes und intimes Gefühl von Nähe und Verbundenheit zwischen ihnen besteht. Im modernen Nationalstaat sind oftmals die Gemeinschaften, neben anderen, zu Teilsegmenten geworden. Gemeinsam ergeben sie die Gesellschaft. Die plurale Gesellschaft ist ein Zweckbündnis, um ein sicheres Zusammenleben in einem größeren Verbund zu ermöglichen, sie kann jedoch aufgrund dieser Pluralität keine ausreichende sinnstiftende Weltanschauung anbieten, die zugleich eine tief reichende Solidarität schafft. Von vornherein gibt es zwischen den Individuen eine größere Distanz. Staatsbürgerliche Feste wie Nationalfeiertage, eine nationale Erzählung, Nationalflagge und -hymne, nationale Helden sowie die Sprache stiften ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. Aber für die meisten Bürger eines Landes dürfte es doch der Genuss an Freiheiten und Rechten sowie wirtschaftlichen Aufstiegschancen sein, also das gute Leben, das Menschen einen Ort als Heimat empfinden lässt. Der Einzelne ist bedeutsamer, als er es in der Gemeinschaft ist. Diese gesellschaftliche Pluralität, die mit dem Voranschreiten der Zeit nicht kleiner, sondern aufgrund von Ausdifferenziertheit größer wird, macht den Dialog notwendig. Dialog, das ist ein Gespräch zwischen zwei oder mehreren Personen, bestehend aus Rede und Zuhören sowie Gegenrede und Zuhören. Aber worin besteht das angestrebte Ziel der Dialogparteien? Was soll am Ende erreicht werden und woran erkennt man dies? Was sollen die Dialogpartner im Anschluss wissen und tun?
Ist Dialog ein Überzeugungsgespräch, bei dem das Gegenüber von der eigenen Weltanschauung überzeugt werden soll? In diesem Fall spricht sich von vornherein eine Seite eine höherwertige Position zu. Handelt es sich beim Dialog um ein Streitgespräch, wo es im Grunde darum geht, das Publikum zu umwerben? Unter diesen Umständen ist der Dialog eine Wettbewerbsveranstaltung um Anhängerschaft und Unterstützung. Oder ist Dialog ein
Lösungsgespräch, bei dem sich unterschiedliche Parteien auf Augenhöhe begegnen und einander kennenlernen, um gemeinsam durch These und Antithese eine Lösung für ein Problem zu finden? Die meisten Gespräche sind unfruchtbar, da zuvor die Zielsetzung nicht erörtert wurde sowie die Kontrolle fehlt, ob man weiterhin dieses Ziel verfolgt.

Dialog macht man nicht einfach. Das Führen eines fruchtbaren Gesprächs will erlernt sein. Es braucht ein Verständnis bezüglich der Institution Dialog. Die Institution Dialog muss ein machtneutralisierter und herrschaftsemanzipierter Raum sein, in dem es in Diskussionen allein auf die Autorität des Argumentes ankommt. Die Macht des Staates, die Interessen der Wirtschaft und das Popularitätsversprechen der Massen und Medien müssen hier suspendiert sein. Der Dialog wird somit zu einem Forum, in dem in Freiheit diskutiert wird. Jedes Gesellschaftsmitglied kann am Dialog partizipieren, es muss aber anerkennen, dass seine Wahrheit in jenem Moment, in dem es sie in die Öffentlichkeit der Gesellschaft trägt, zu einer Meinung unter Meinungen wird, die evaluiert werden muss. Das heißt, wir äußern unsere Meinung in einem Gespräch, die auch als Diskursmeinung anerkannt werden muss. Wir formulieren Gegenargumente, die auch ernst genommen werden müssen. Es ist eine Auseinandersetzung unter Gleichen. Die Gesellschaft selbst ist ein Raum der Meinungsvielfalt, der diesen Rahmen voraussetzt.
Die selbstevidente Macht des besseren Argumentes nimmt dann innerhalb der Gesellschaft die Funktion ein, auf der einen Seite Kontinuität zu gewährleisten, aber auf der anderen Seite auch Veränderungen zu bewirken, sofern ihre Mitglieder offen für Veränderungen durch Kommunikation sind.
Das begründete Argument erzeugt in der Gesellschaft legitime Macht, die auf die Gesellschaft einwirkt. Neue Entwicklungen werden dann nicht via Befehl, sondern durch Dialog und Überzeugung von den Gesellschaftsmitgliedern angenommen. Sie gelten auch nicht als absolute Wahrheiten, sondern als das, was diese Gesellschaft nach einem wahrhaftigen Reflexionsprozess als augenblicklich richtig versteht.
Die kommunikative Macht kann somit die Gesellschaft in eine bestimmte Richtung lenken, sofern die Gesellschaftsmitglieder das Argument annehmen. Auf diese Weise finden sie zu einem neuen Konsens und es bildet sich eine neue Mitte.
Hierüber darf aber nicht vergessen werden, Dialoge verlaufen nicht nach dem „Entweder-oder-Prinzip“, sondern oftmals können mehrere Argumente und Beschlüsse nebeneinander bestehen bleiben und sei es nur in Form einer legitimen Mehrheits- und einer legitimen Minderheitenmeinung. Der Versuch, einem Gespräch das Prinzip „Entweder so wie ich es sehe oder gar nicht“ überzuwerfen, macht jeden Dialog sinnlos. Ein solcher Diskutant geht davon aus, dass nur seine Anschauung und sein Wille zählen. Damit erhebt er sich über die anderen Diskutanten und ein Gespräch unter Gleichen ist nicht mehr möglich. Die Verabsolutierung der eigenen Position macht es einem Diskutanten unmöglich, zu differenzieren und zu unterscheiden.
Um nicht in eine solche Situation zu geraten, muss für alle in der Gesellschaft gelten: Mäßigung der eigenen Ansprüche, ohne sie durchzustreichen. Konkret bedeutet dies zu akzeptieren, dass man selbst im Unrecht und der andere im Recht sein kann oder dass man selbst im Recht ist, aber es weitere Positionen gibt, die ebenso im Recht sind. Nur so bleibt man offen für andere Sichtweisen und für die eigene Offenheit.
Dialog ist nur dann ein Mittel, um Spannungen und Fremdheit ab- und Kooperation und Vertrauen aufzubauen, Sprachlosigkeit zu überwinden und Kommunikation zu fördern, wenn es eine Gesprächskultur gibt. Damit der interreligiöse Dialog gelingen kann, sollten – in
Anlehnung an Leonard Swidler und den Leitfaden für den interreligiösen Dialog des Interreligiösen Think-Tank⁶ – folgende Punkte berücksichtigt werden:

      1. Wenn die Gesprächspartner nicht ein Mindestmaß an Wirklichkeitsverständnis und Mitmenschlichkeit miteinander teilen, erübrigt sich jegliches Gespräch. Mit menschenverachtenden Extremisten politischer oder religiöser Couleur, Rassisten und Verschwörungstheoretikern sowie notorischen Lügnern ist kein sinnvolles Gespräch möglich.
      2. Das Gespräch darf nicht mit westlicher Zivilisierungsmission, christlicher Mission oder islamischer daʿwa (Einladung zum Islam) verwechselt werden. Ziel ist es nicht, den anderen zu bekehren oder zu bevormunden, sondern zu einer gemeinsamen Kooperationsgrundlage zu gelangen.
      3. Der Gesprächspartner ist nicht Abziehbild „der“ anderen Religion, sondern mitgeprägt durch Faktoren wie Kultur, ökonomische Verhältnisse, Klassen-, Schicht- und Geschlechtszugehörigkeit, Mehrheits- und Minderheitenstatus. Im interreligiösen Dialog tritt lediglich die religiöse Identifizierung aufgrund der Dialogsituation stärker in den Vordergrund. Der Gesprächspartner darf aber nicht auf seine religiöse Zugehörigkeit reduziert werden. Andernfalls führt dies zu einer Verzerrung der involvierten Personen wie auch der Religion.
      4. Jeder Gesprächspartner kann zwar von der eigenen religiösen Einzigartigkeit überzeugt sein, dies kann aber nicht mit einem Universalitätsanspruch gegenüber dem anderen einhergehen. Jede Seite muss die Stärke aufbringen, den Einzigartigkeitsanspruch des anderen auszuhalten und zu respektieren, auch wenn man diese Ansicht nicht teilt.
      5. Unabdingbar für das Gespräch ist die Bereitschaft hinzuhören, denn wo der übergriffige Anspruch erhoben wird, dass man den anderen besser versteht als er sich selbst, werden Monologe, aber keine Dialoge geführt. Im Gespräch geht es um das Verstehen, wie mein Gegenüber auf die Fraglichkeit der Welt reagierte und auf welchen Überzeugungen seine Anschauung der Welt beruht. So kann nur ein Christ das Christsein oder sein Verständnis der Dreifaltigkeitslehre aus der Innenperspektive erläutern. Andersgläubige können lediglich beschreiben, welchen Eindruck Aspekte der christlichen Religion bei ihnen, aus der Außenperspektive betrachtet, hinterlassen.
        Damit verbunden muss die Bereitschaft vorhanden sein, statische Vorverständnisse der jeweils anderen Religion aufzugeben und zu hinterfragen.
      6. Um die Glaubenswelt und -praxis des anderen verstehen zu können, sind Empathie sowie die Bereitschaft nötig, geistig einige Kilometer in den Mokassins des anderen zu gehen. Wenig hilfreich ist es, das eigene Religionsverständnis auf den anderen zu übertragen und damit der eigenen Religion und ihrer Entwicklung Universalität zuzuschreiben und sie so zum Maßstab zu erheben (z. B. „Der Islam braucht eine Reformation wie das Christentum“).
      7. Ein Gespräch gründet auf Vertrauen, d. h. der Selbstverständlichkeit der Wahrhaftigkeit: Beide Seiten müssen sich ehrlich und aufrichtig begegnen und diese Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit beim anderen voraussetzen. Der taqīya-Vorwurf, den Muslime in der westlichen Hemisphäre des Öfteren ausgesetzt sind, verunmöglicht den Dialog.
      8. Da ein Gespräch auf Vertrauen basieren soll, ein solches aber erst wachsen muss, sollten in der Anfangszeit Themen behandelt werden, die auf die Gemeinsamkeiten hinweisen und Perspektiven für eine Zusammenarbeit bieten.
      9. Erst durch Vertrauen verdient sich jede Seite das Recht, im Namen des Vertrauens und des Respekts alle Fragen stellen zu dürfen, auch jene, die wehtun.
      10. Im Gespräch müssen beide Seiten zwischen der Religion und dem religiösen Wissen unterscheiden, denn Religion unterliegt menschlichen Interpretationen, die stets begrenzt, endlich, wandelbar und auch fehlerhaft sein können. Daher sollte man davon Abstand nehmen, zu verallgemeinern. Weder gibt es „das“ Judentum noch „das“ Christentum und auch nicht „den“ Islam. Religionen sind keine Monolithe. Sie integrieren sich in unterschiedliche Kulturen, wodurch sie in sekundären und tertiären Dingen deren Ausdrucksformen annehmen.
        Religionen sind Mosaike. Diese Mosaike haben in Form von Konfessionen, Lehrschulen, Gelehrtenstand und Strömungen auch jeweils eigene Interessen und buhlen um Partizipation in ihren Gesellschaften, was Verschmelzungstendenzen und Synchronisationsprozesse von Religion in Bezug auf das bestehende politische Regime, quer durch die Menschheitsgeschichte, erklärt. Unredlich ist es, wenn Westeuropäer ihre augenblickliche Realisierung des Christentums als universell postulieren unter Ausblendung anderer, repressiver Formen von Christentum wie z. B. auf dem afrikanischen Kontinent, während muslimische Europäer sich für Ausdrucksformen des Islam in Afghanistan oder Saudi-Arabien rechtfertigen sollen. Aufgrund des Pluralismus in der Welt kann nur Lokales mit Lokalem verglichen werden. Wenn Muslime hierzulande Stellung nehmen sollen zu Terrororganisationen wie Boko Haram, dann sollte auch das christliche Pendant Lord’s Resistance Army in den Blick genommen werden. Gerade der Vergleich und die Feststellung, dass beide Terrororganisationen sich ähnlicher Mittel bedienen, kann erkenntnisgewinnender sein, als eine kulturell ganz anders beheimatete Religionsgemeinschaft an den Pranger zu stellen.
        Daher sollten die eigenen Ideale (z. B. Friedensbotschaft) nicht mit der Praxis (z. B. Gewaltpotenzial) des anderen verglichen werden, sondern die eigenen Ideale mit den Idealen des anderen und die eigene Praxis mit der Praxis des anderen.
        Hinsichtlich der geschichtlichen Verwirklichung der Religion muss jeder Teilnehmer im Gespräch die Fähigkeit zur Selbstkritik und die Fähigkeit, Kritik auszuhalten, besitzen.
      11. Ein Gespräch sollte frei von Ihr-Vorwürfen, Ärger, Forderungen und destruktiver Kritik sein, denn all dies löst beim Gegenüber ebenso Ärger, das Einnehmen einer Verteidigungsposition und das Aufstellen eigener Forderungen aus.
      12. Statt Ihr-Anklagen zu äußern, bleibt jeder Gesprächspartner bei Kritik bei sich, indem man berichtet, wie dieses oder jenes auf einen wirkt.
      13. Im Gespräch müssen unterschiedliche Diskursebenen und ihre jeweiligen Rahmen eingehalten werden. Auf der politischen Diskursebene gehört es sich nicht, dass Gläubigen durch Politiker ihr Religionsverständnis abgestritten wird oder sie sich mit Bezug auf ihre Glaubensquelle rechtfertigen müssen. In der politischen Auseinandersetzung im säkularen Staat ist die Glaubensquelle, anders als im interreligiösen Dialog, keine Quelle für den Bürgerdiskurs, sondern die Verfassung. Gläubige müssen auf der Bürgerebene daher ihre Praxis nicht religiös erklären, sondern sollten als Bürger auftreten, indem sie auf die Freiheiten, die ihnen die Verfassung gewährt, verweisen.
      14. Wo der Gesprächspartner sich wiederholend nicht an diese Spielregeln des Dialogs hält, sollte der Mut aufgebracht werden, Gespräche freundlich und souverän zu beenden.
      15. Die Ergebnisse des Gespräches müssen in die eigene Religionsgemeinschaft transportiert werden, damit sich bei den eigenen Glaubensgeschwistern ein Erkenntnisgewinn einstellt. Auf diese Weise lernt eine ganze Gemeinschaft.
        So entstehen unter der Brücke lokal Kontaktzonen, Spannungsfelder und Lerngemeinschaften zwischen den Gemeinschaften einer Gesellschaft und global zwischen den Gesellschaften der Weltgesellschaft, die mehrpolig und reziprok sind. Unter der Brücke lernen wir uns tatsächlich kennen, mit all unseren Ecken und Kanten, und verhandeln von unseren unterschiedlichen Standpunkten unsere ethische Schnittmenge aus. Auf diese Weise können wir unser gemeinsames Handeln in dieser fragil gewordenen Welt abstimmen, um den unvermeidbaren Herausforderungen, die auf uns warten, zu begegnen.⁷ Doch gestaltet sich der Dialog in der Praxis so, wie die Theorie verspricht?



    Der Dialog in der Praxis

    Man kann nicht 100-prozentig Moslem und 100-prozentig Deutscher sein. (Hamed Abdel-Samad)⁸

    Der politische Islam richtet sich gegen uns alle und ist viel gefährlicher als der Jihadismus und Salafismus, weil er viel subtiler, nämlich in Krawatte und Anzug, auftritt. Das durchschauen viele Politiker noch nicht, mit denen ich rede. (Mouhanad Khorchide)⁹

    Alle Beziehungen eines Menschen zu anderen (Gott, Eltern, Ehepartner, Kinder, Arbeitskollegen usw.) sind immer geprägt vom Machtpotenzial. Der Dialog ist demnach ebenso vorherrschenden Machtstrukturen ausgesetzt.
    Das Wort Macht drückt nichts anderes aus, als das eigene Potenzial auszuschöpfen, gestalterisch in der Welt tätig zu sein, um sich hierdurch selbst zu erfahren, selbst zu bestätigen und selbst zu verwirklichen. Nach dem Philosophen Muhammad Iqbal ist man, solange man handelt.¹⁰ Macht ist ein Streben des Über-sich-selbst-hinaus-gehens, wodurch der Mensch sein eigenes Selbst vergrößert. Diese Vergrößerung stellt zugleich eine Erfahrung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen dar und ist somit zugleich ein bei sich selbst sein. Je mehr Macht ein Individuum besitzt, desto souveräner und unabhängiger ist es. Macht besitzt folglich ein Emanzipationspotenzial, das unterdrückerische Strukturen aufzubrechen vermag und aus asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnissen befreien kann.¹¹
    In der Schöpfung wirkt der Wille zur Macht eines Individuums auf den Willen zur Macht anderer Individuen und prägt somit unsere Verhältnisse zueinander. Der Wille als Kraft ist Streben, Ringen, Durchsetzen wie auch Beherrschung, da sich der Wille eines Menschen an einem anderen vollzieht, indem dessen Wille zur Macht überwunden wird. Folglich lässt sich in allen unseren Beziehungen, in verschiedenen Rollen und in unterschiedlichem Ausmaß zwischen dominanten und subdominanten Personen unterscheiden, was die Etablierung dominanter-subdominanter Herrschaftsstrukturen nach sich zieht.

    Dieses Machtstreben ist in seiner rohen und primitiven Form die blanke Lust des Menschen, über andere zu herrschen. Das ist Macht in ihrer destruktiven Form, die freiheitsmindernd, gar freiheitszerstörend wirkt.¹² In einer religiös-ethisch kultivierten Form, gepaart mit Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, wird Macht auch Nächstenliebe genannt. Nächstenliebe ist eine konstruktive Macht. Sie ist transformativ, denn sie nimmt Anstoß an den Ungerechtigkeiten in der Welt, die dazu führen, dass Menschen am Wegesrand zurückgelassen werden, und verändert sie. In diesem Sinne schrieb Martin Luther King: „Eines der größten Probleme der Geschichte ist es, dass die Begriffe Liebe und Macht gewöhnlich als polare Gegensätze gegenübergestellt werden. Liebe wird mit dem Verzicht auf Macht und Macht mit der Verneinung der Liebe identifiziert. (…) Macht im besten Sinne ist Liebe, die die Forderungen der Gerechtigkeit erfüllt. Gerechtigkeit im besten Sinne ist Liebe, die alles verändert, was sich der Liebe entgegenstellt.“¹³ Nächstenliebe ist eine freiheitsfördernde Macht, die Augenhöhe zwischen den Menschen herstellen will, die Pluralität in der Gestalt verschiedener Standpunkte sichtbar macht und einen Konsens ohne die Unterdrückung von Meinungen herbeiführen will.¹⁴
    Da der Dialog ebenfalls einem Machtaspekt unterliegt, werden die hehren Absichten der Theorie unterlaufen. Auch im säkularen religionsneutralen Staat wird dieser von der Mehrheitsbevölkerung und den Volksvertretern, wenn auch nur kulturell, mit der Mehrheitsreligion assoziiert. Hierdurch hat Letztere mehr Einfluss, Verflechtungen, Ressourcen und Kapazitäten, also Macht, als Vertreter einer Minderheitenreligion. Der Dialog ist von vornherein einer Asymmetrie bzw. einem Machtungleichgewicht ausgesetzt.
    Zugleich sind alle Religionsgemeinschaften im Staat, selbst im neutralen säkularen Staat, dem Machtwillen von Politikern und der Religionspolitik von Parteien ausgesetzt. „Die Religion kann politisch vereinnahmt oder ausgegrenzt, gefördert oder ignoriert, instrumentalisiert oder unterdrückt werden. Der säkulare Staat hat viele religionspolitische Optionen. Entsprechend vielfältig sind die Reaktionsmuster der Religionen, die abhängig sind von der Bestimmtheit der religiösen Quellen und der Tradition“¹⁵ , erklärt der Theologe Arnulf von Scheliha.
    Unter diesen Gesichtspunkten begegnen sich die Religionsgemeinschaften im Dialog nicht auf Augenhöhe. Die Minderheitenreligion sieht sich mit einem professionalisierten Apparat, entweder dem Staat oder der Mehrheitsreligion, konfrontiert, der die Themen setzt und die Dialogpartner auswählt. Die Themen orientieren sich dabei an den Interessen der Mehrheitsgesellschaft und die Auswahl der Gesprächspartner ist plakativ (gut/böse, freiheitlich/fundamentalistisch, liberal/konservativ), um der Mehrheitsgesellschaft ein einfaches Denken in Schubladen zu ermöglichen. Dieses Dominanzverhalten ist, geprägt durch die Einbettung in die Landeskultur, Ausdruck einer psychologischen Selbstverständlichkeit. Oftmals geht es im Dialog gar nicht um das Verstehen der Religion der Minderheit, sondern um ein Abarbeiten von medial vermittelnden Konflikten mit dieser.¹⁶

    Die Reaktion der Vertreter der Minderheitenreligion ist oftmals das Einnehmen einer subdominanten Position, indem man sich dem Diskursdiktat fügt, sich erklärt, rechtfertigt oder beklagt, durch Medien und Mehrheitsbevölkerung nicht so dargestellt zu werden, wie man sich selbst versteht.
    In der beobachteten Dialogpraxis kommt es selten zu einem Angleichungsprozess. Anfänglich werden die geäußerte Schwäche, das Selbstmitleid und die Unterwürfigkeit mit Empathie und Anteilnahme bedacht. Doch in allen Lebensbereichen, bis hin zum Verständnis von Gott, zeigt sich immer wieder: Stärke wird respektiert, wertgeschätzt und bewundert. Das Mitempfinden und die Sympathie für den Schwachen können dagegen nach einiger Zeit umschlagen in ein Genervtsein, in Verachtung und letztendlich in Aggressivität. Dieser asymmetrische Dialog lässt Ressentiments gegenüber der Minderheit eher wachsen.¹⁷
    Da diskutiert, argumentiert, analysiert, kalkuliert, debattiert, polemisiert, impliziert und suggeriert die Minderheit, aber das Machtungleichgewicht verschärft sich weiter und das Bemühen, den anderen zu verstehen, nimmt ab. Wieso verfehlt der Dialog hier sein Ziel? Weshalb kommt es nicht zu einem Verstehen, zu Ausgleich und einem Angleichungsprozess bzgl. der Macht? Warum bleibt die Position der Minderheitenreligion weiterhin subdominant, die kaum Möglichkeiten gewährt, in den Medien und Institutionen der Mehrheitsbevölkerung eigene Diskursschwerpunkte zu setzen? Weil dies bedeuten würde, dass die dominante Position Macht abgibt, was mit dem Willen zur Macht kollidiert. Niemand gibt gerne und freiwillig Macht ab. Das Verstehen reicht nur so weit, wie es den Status quo der Mehrheit nicht gefährdet. Aber beansprucht die Minderheit durch den Dialog Dinge, die sie mit der Mehrheitsreligion gleichsetzt, wird die Minderheit geahndet, eine Parallelgesellschaft errichten zu wollen oder ihre Religion zu politisieren.
    Flankiert wird dieses Unterfangen durch soziale Aufsteiger aus der Minderheit („Man muss begründete Ängste der Mehrheit ernst nehmen“), deren Karrieren in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Mehrheitsgesellschaft stehen. Die Intention dieser Aufsteiger kann unterschiedlich gelagert sein, aber als Verfechter des Status quo sind sie sozialpolitisch als konservativ einzuordnen, auch wenn die Mehrheit sie als progressiv plakatiert. In ihrer Kritik an den Bestrebungen der Minderheit erweisen sie sich buchstäblich als loyal gegenüber der Mehrheit und nehmen diese vor jeglichen Ungerechtigkeits- oder Rassismusvorwürfen in Schutz. Auf diese Weise werden sie Teil der bestehenden dominanten-subdominanten Herrschaftsstrukturen. Diese „loyalen“ Vertreter aus der Minderheit schmücken sich zwar mit schönen Worten wie Barmherzigkeit für alle, sind aber in der Kritik an ihrer Gemeinschaft bar jeder Sympathie und Barmherzigkeit. Diese Obsession nach Anerkennung und Lob durch die Mehrheitsgesellschaft kann nur als pathologisch eingestuft werden.
    Die weitere Folge ist, dass die Minderheit sich nun selbst unter Druck setzt, der Mehrheit beweisen zu müssen, dass sie keine bösen Absichten verfolgt. Die Aufklärungsarbeit in Bezug auf die eigene Religion und der Dialog werden intensiviert, was aber großflächig eher zu unguten Ergebnissen führt.

    Als Nächstes entstehen in der Minderheit Gruppierungen, die jene – aus Sicht der Mehrheitsbevölkerung – Ecken und Kanten ihrer religionsgemeinschaftlichen Identität abschleifen wollen und sich durch Begrifflichkeiten wie „liberal“ oder „säkular“ von ihrer Gemeinschaft abgrenzen. Auch hier kann die Motivationsgrundlage vielfältig sein und sollte daher nicht simplifizierend als opportunistisch abgetan werden. Problematisch ist jedoch, dass diese Gruppen sich mit dieser Vorgehensweise als positive Alternative auf- und zugleich den Rest ihrer Gemeinschaft abwerten.
    Gedanklich ist der Schritt dieser Gruppen erst einmal gar nicht so verkehrt, denn wenn Reibung rausgenommen wird, gibt es auch weniger Funken. Aber am Ende ist eine solche Religionsgemeinschaft gänzlich abgeschliffen. Sie ist bar jeder eigenständigen religions-gemeinschaftlichen Identität. Langfristig betrachtet, kann ein solches Religionsverständnis weder an die nächste Generation weitergegeben werden noch können Menschen zu dieser Religion finden oder Religion eine konstruktive gesellschaftliche Relevanz entfalten, da sie zur Esoterik verkommen ist.
    In diesem Moment verschlimmert der Dialog eigentlich nur noch alles und es entsteht ein „Teufelskreislauf“, indem Ursache und Wirkung vertauscht werden. Richtig wäre es an dieser Stelle seiner vertikalen Beziehung zu Gott sowie dem damit verbundenen Selbstwert und Selbstverständnis bewusst zu werden. Hinter dem Verbiegen bis zur Selbstunkenntlichkeit steckt Angst. Angst, die dominante Seite zu enttäuschen, da man sich nach deren Wertschätzung und Anerkennung sehnt. Angst vor materieller und sozialer Benachteiligung. Angst, in der gesellschaftlich subdominanten Position zu verharren. Diese Ängste beeinträchtigen zugleich die vertikale Beziehung zu Gott, da sie Gläubige in ein Abhängigkeitsverhältnis zu etwas anderem als Gott bringen. Es gilt, diese Ängste zu überwinden, indem man sich in einem vernünftigen und humanen Maß von der Übergriffigkeit der dominanten Seite abgrenzt und aus dem Hamsterrad der aufgezwungenen und saisonal wiederkehrenden toxischen Diskurse aussteigt.
    Das ist leichter gesagt als getan, da die Minderheit infolge der ewigen Wiederkehr toxischer Diskurse und dem Irrglauben, dass Dialog in asymmetrischen Beziehungen zu Verbesserungen führt, getriggert wird zu reagieren. Doch die Reaktion hierauf verstärkt die bereits schwächere Position des Reagierenden nur weiter, denn der dominanten Seite ist es abermals gelungen, die subdominante Seite zu provozieren. Dies verfestigt die Position der Stärke und Macht des Dominanten über den Subdominanten. Die größte Angst des Dominanten ist, dass er keine Reaktion mehr erzielt. In einem solchen Moment verliert er nämlich seine Macht über den Subdominanten und ist auf sich selbst zurückgeworfen. Freundliche Gleichgültigkeit gegenüber diesen Provokationen ist demnach die beste Handhabe.
    Emotionale Autonomie lautet hier das Schlüsselwort. Durch Distanzierung und das Umlenkung der ohnehin knappen Ressourcen einer Minderheit in Projekte, die der Gemeinschaft tatsächlich und langfristig zugutekommen, bleiben der dominanten Position nur zwei Handlungsoptionen: Repression oder Entgegenkommen. In jedem Fall ist es eine Abgabe von Macht, da man sich mit einem Mal um die Aufmerksamkeit der Minderheit bemühen muss, obwohl es ja umgekehrt sein sollte. Die Dynamik zwischen Mehrheit und Minderheit verändert sich. Die Minderheit bemüht sich nicht länger vergebens, die Mehrheit von sich zu überzeugen oder sie unbeabsichtigt in ihrer dominanten Position zu bestätigen. Durch das Verlassen von toxischen Diskursen, die lediglich dominante-subdominante Herrschaftsstrukturen abbilden, hat sich die Minderheit emanzipiert, wohingegen die dominante Seite in ihrer Perplexität diesen Schritt zunächst als Beleidigtsein oder Resignation fehldeutet. Nein zur Mehrheit zu sagen, wird in diesem Kontext zu einem der mächtigsten Wörter, die eine Minderheit besitzt. Das Nein ist befreiend. Das Nein ist eine Absage an die Mehrheitsgesellschaft, weiterhin als Sündenbock und Prellbock gesellschaftstragend zu sein.
    Was also tun, wenn Reden alles nur noch schlimmer macht? Etablierten Herrschaftsstrukturen, insbesondere, wenn sie von sozialen, ökonomischen und rassistischen Benachteiligungen begleitet werden, können durch wirtschaftlichen Aufstieg infolge von Unternehmertum und finanzieller Unabhängigkeit unterlaufen werden. Wirtschaftlicher Auf-stieg bedeutet zugleich Bildungsaufstieg und somit eine Begegnung auf Augenhöhe mit der Bildungselite der Mehrheitsgesellschaft. Eigene Unternehmen ermöglichen, berufliche Räume für benachteiligte, aber qualifizierte Mitglieder aus der eigenen Gemeinschaft zu öffnen, die ihnen wiederum den sozialen Aufstieg ermöglichen. Dies führt zu einer Anhäufung von Kapital, das in die eigene Gemeinschaft in Form von Stiftungen investiert werden kann, die in weiterer Folge eine Professionalisierung und Umsetzung von Projekten von der Gemeinschaft für die Gemeinschaft finanzierbar machen. Finanzielle Unabhängigkeit durch multiple Einkommen garantiert wiederum die intellektuelle Unabhängigkeit, Integrität und Selbstachtung von Gelehrten, Philosophen und Intellektuellen, sodass das Machtungleich-gewicht derart verringert wird, dass sich beide Seiten nach einer Phase der Distanzierung und des Ausstiegs aus toxischen Diskursen auf Augenhöhe begegnen können. Und bis dahin Dialogpause?
    Nein, denn dies würde zu Isolationismus führen. Eine Minderheit sollte stets das dominante-subdominante Machtverhältnis im Dialog reflektieren und dieses mit der dialogischen Theorie und der Nächstenliebe verbinden. Dann müssen Asymmetrien kein Hindernis darstellen, um ein Gespräch zu führen, bei dem beide Seiten Augenhöhe anstreben und in dem allein die Macht des Argumentes gilt. Auf diese Weise gelangt man zu einem konstruktiven Dialog.
    Sich die emotionale Autonomie zu bewahren, statt sich wieder in den Kreislauf toxischer Diskurse zu integrieren, bedeutet, sich stets zu vergewissern, weshalb man sich in einen bestimmten Diskurs einschaltet bzw. ihn anstößt. Immer wenn die Antwort lautet, eine Veränderung bei der Mehrheitsgesellschaft erzielen zu wollen, sollte man von dem Vorhaben ablassen.
    Die Verbindung von Dialogtheorie und Nächstenliebe bedeutet, die Würde des Menschen ernst zu nehmen, da keine Willkürmacht unliebsame Personen und Meinungen oder Überzeugungen und Ziele, die diametral zu den eigenen stehen, zum Verstummen bringt. Hier nehmen Menschen sich gegenseitig ernst und befinden sich auf Augenhöhe, statt einander zu diffamieren, auszugrenzen oder in Feindbildern zu denken.¹⁸
    Die Verbindung von Dialogtheorie und Nächstenliebe bedeutet zudem, die Meinungs-freiheit ernst zu nehmen, denn was ist Meinungsfreiheit anderes als die Artikulation eines Gedankens. Wo die Meinungsfreiheit unterdrückt wird, wird das Denken unterdrückt. Aber zugleich muss die Grenze dort gezogen werden, wo Inhumanes und Extremistisches propagiert und Verschwörungstheorien geraunt sowie falsche Tatsachenbehauptungen in Umlauf gebracht werden. Aber alles darunter muss im Sinne der Toleranz geduldet, ertragen und ausgehalten werden, weil die Menschen in dieser Dialogform sich als Gleichgestellte erachten, die einander mit Respekt und Achtung begegnen.
    Die Verbindung von Dialogtheorie und Nächstenliebe ist es schließlich, die demokratisch, und offen ist, die den Streit der Meinungen und das Abwägen der Argumente respektiert, die eine Suche nach einer menschenwürdigen und erwachsenen Gesellschaft darstellt und die bei allem Dissens ein Miteinander-im-Gespräch-bleiben ermöglicht. Ihr Ergebnis ist eine grundsätzliche menschenfreundliche Toleranz, die freiheitsfördern ist und sichtbare Pluralität zulässt.¹⁹
    Der konstruktive Dialog ist aber auch ein Dialog, bei dem Dialogwortführer ihre Geisteskräfte nicht an jedem gesellschaftlichen Aufreger, der ohnehin in ein paar Tagen von einem anderen abgelöst wird, verschwenden. Die Kunst ist es, sich zurückzuziehen, Kräfte zu sparen und zu sammeln, welche später einmal der Gesellschaft bei den wirklich wichtigen Fragen zugutekommen. Über was sollte also gesprochen werden?


    Der Dialog der Verantwortung

    Anderen gegenüber so zu handeln, wie Gott sich gegenüber der Menschheit verhält. Im weitesten Sinne dieses Wortes, der Pflicht, ist es die Pflicht zu lieben und zu vergeben. (…) Ich möchte euch bitten, euch in diesen Momenten daran zu erinnern, dass keine Verpflichtung unseres heiligen Propheten zwingender ist (…) als die vollkommene Verwirklichung unserer Pflicht den anderen zu lieben und zu tolerieren. (Muhammad Ali Jinnah)²⁰

    Nichts repräsentiert den Zusammenhalt einer Gesellschaft mehr als das Bild vom Wirtschaftskuchen. Von Jahr zu Jahr gilt es unter Ausnutzung sämtlicher verfügbarer Ressourcen, diesen Kuchen so groß wie nur möglich zu backen. Nur so kann sichergestellt werden, dass jede Gruppe bei der Krümelverteilung für die nächsten zwölf Monate zufriedengestellt wird. Andernfalls bekommt es eine Gesellschaft sehr schnell mit sehr harten Verteilungskämpfen zu tun. Und wir Muslime? Sind wir auch nur eine Gruppe im kapitalistischen System? Wie verträgt sich dies mit der Aufgabe, die Gott dem Menschen aufgetragen hat, sein Statthalter auf Erden zu sein (ḫalīfa fī ʾl-arḍ)? Gibt es überhaupt eine breite Reflexion seitens der Muslime, was diese Aufgabe heutzutage beinhaltet und wie Muslime ihr gerecht werden können?
    Der muslimische Intellektuelle Ashgar Ali Engineer (gest. 2013) zeichnete infolge des Klimawandels ein düsteres Bild von der Zukunft des Menschen. Weite Teile dieses Planeten, so Engineer, drohen unbewohnbar zu werden. Schon heute sind 77 Prozent der Erdoberfläche nicht mehr Urnatur. Statt also weiterhin einander als Feinde wahrzunehmen, sollten die Menschen anerkennen, dass sie gemeinsam vor einer ökologischen Herausforderung stehen, die nur durch Zusammenarbeit bewältigt werden kann. Andernfalls drohen ein Massensterben aufgrund von Wassermangel, Luftverschmutzung und Dürre sowie Flüchtlingsströme und Kriege um die letzten noch lebenswerten Flecken dieser Welt und ihre endlichen Ressourcen.²¹ Drei Milliarden Menschen, so bestätigt auch der Paläoklimatologe Gerald Haug, droht zum Ende des Jahrhunderts, keine Lebensgrundlage mehr zu haben.²²
    Engineer drückte zwar die Hoffnung aus, dass durch Kooperation die Folgen des Klimawandels abgemildert werden könnten,²³ doch heute wissen wir, dass es zu spät ist. Der Klimawandel hat bereits begonnen und seine verheerenden Folgen werden wir in den kommenden Jahrzehnten zu spüren bekommen.
    Schätzungsweise wird die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2100 auf etwa zehn Milliarden Menschen anwachsen. Sie alle wollen ernährt werden. Dazu muss der Erde aber noch mehr Nahrung abgerungen werden, was durch die Folgen des Klimawandels kaum gelingen wird. Die in diesem Zusammenhang stehenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche und Verwerfungen werden Proteste unterschiedlicher Art hervorrufen. Nach Karl Marx (gest. 1883) prägt das gesellschaftliche Sein des Menschen sein Bewusstsein.²⁴ Die Sprache des Protestes wird bei säkular eingestellten Menschen säkular und bei religiös eingestellten Menschen religiös zum Ausdruck kommen. Er wird die Gestalt von alternativen und revolutionären bis hin zu terroristischen Bewegungen annehmen. Das Leben, wie wir es heute kennen, „in arbeitsteiligen und verflochtenen, in historisch unvergleichlich friedfertigen und sozial einbindenden Gesellschaften“²⁵, wird zu einem Ende kommen. Die Welt wird härter, ungleicher, schmutziger und düsterer.²⁶
    Das Bild vom Wirtschaftskuchen ist nicht zukunftsfähig. Die Wirtschaft kann nicht unendlich wachsen. Dieser Kuchen birgt die Schadstoffe der sozialen Verwerfung, der Zerstörung der Schöpfung und damit der Entkopplung des Menschen von Gott in sich. Dieser Kuchen kann keine intra- und intergenerationale Gerechtigkeit und Solidarität schaffen. Er ist ein Problem. Haben wir Muslime eine Lösung?
    Der Mensch wird erkennen müssen, dass er nicht über der Schöpfung steht, sondern in ihr eingebettet ist, andernfalls wird er untergehen. Lernen, ein Teil der Schöpfung zu sein, innerhalb ihres Rahmens zu leben und sich zu beschränken, wird Themenfeld einer Wissenschaft sein, die bald schon die bedeutsamste aller Wissenschaften sein wird: die Ökologie. Dieses Nachdenken hierüber muss jetzt stattfinden, denn das Wirtschaften der Menschen in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart tötet die Menschen der Zukunft. Von dem Schlagwort Wirtschaftlichkeit, das Umweltregularien außer Kraft setzen will, und einem naiven Innovationsglauben, der davon ausgeht, dass eine technologische Erfindung das Problem Klimawandel schon lösen wird, sollte sich niemand täuschen lassen. Das Gleiche gilt für Verschleierungsaktionen von Klimaaktivisten, die einen Tag X ausrufen, bis zu dem unbedingt noch etwas getan werden muss, um den Klimawandel abzuwehren, der dann aber immer wieder verschoben wird, um den Aktivismus am Leben zu erhalten. Die Zukunft ist bereits eingetreten und wir befinden uns mitten in einem Dialog mit den Menschen von morgen. Wir mögen ihre Stimmen nicht hören, aber dafür hören sie uns. Der Klimawandel fordert unser Gattungsbewusstsein als Menschen heraus. Die Religionsgemeinschaften mit ihrem unvergleichlichen ethischen Imperativ können hier zu den großen Menschheitslehrern werden, so etwa die muslimische umma mit ihrem Dreiklang von
    ▪ der Einheit von Gottes Schöpfung, wonach alles miteinander im Zusammenhang steht,
    ▪ dem Verständnis, dass die Schöpfung ein Zeichen (āya) für die Präsenz Gottes ist,
    ▪ der Verantwortlichkeit des Menschen für die Schöpfung und die eigene Art als Gottes Statthalter (ḫalīfa fī ʾl-arḍ).
    Dieser Dreiklang wurde im 10. Jahrhundert von den iḫwān aṣ-ṣafāʾ (Die Lauteren Brüder) in eine Philosophie gegossen, genannt insāniyya (Philosophie der Menschlichkeit).²⁷
    Da die gesamte Schöpfung ihren Ursprung von Gott hat, gilt für den Menschen als Gottes Statthalter und Teil der Biosphäre, achtsam mit ihr umzugehen, da er ethisch den kommenden Genrationen gegenüber dafür verantwortlich ist, dass sie eine lebenswerte Welt erben.²⁸ Nur in der Wahrnehmung dieser Verantwortung, so die Lauteren Brüder, kann der Mensch sein in ihm ruhendes Potenzial aktivieren und mehr sein als nur ein Tier.²⁹ Je konstruktiver die Menschen ihre Potenziale einsetzen, desto mehr nähern sie sich Gott an, d. h. sie finden zur Erkenntnis ihrer selbst, ihres Da-Seins. Handelt der Mensch jedoch destruktiv sich selbst und der Pflanzen- und Tierwelt gegenüber, so entfernt er sich von der Erkenntnis über sein Selbst und damit von Gott.³⁰ Umweltschutz ist demnach eine Selbst- und Gottbeziehung. Die Lauteren Brüder schreiben – und wir können dies auf das Bild vom Wirtschaftskuchen übertragen:
    Wer in diesem Leben sich ausschließlich mit Essen, Trinken und sexuellen Bedürfnissen beschäftigt, nur Geld, Möbel und andere materielle Dinge sammelt und anhäuft und nach destruktiver Macht strebt, wodurch Wissen und Erkenntnisse vernachlässigt werden, der wird, wenn er stirbt, die Welt unwissend verlassen, so wie er unwissend auf die Welt gekommen ist.³¹
    Als eine „Krankheit“ bezeichneten die Lauteren Brüder eine autodestruktive Lebenshaltung, während „Heilung“ einen konstruktiven Weg darstellt, zu der im Qurʾān geforderten Balance (mīzān) von Mensch, Natur und Kosmos zurückzufinden.³² Und in dieser Heilung erfüllt der Muslim seine Aufgabe als Statthalter auf Erden. Zugleich liegt hier die Zukunft des Dialogs, im Erlernen und Lehren eines neuen Umgangs mit der Schöpfung. Gott schuf die Erde, um die Menschen zu prüfen. Dialog kann keine Nabelschau sein, bei der die Religionsgemein-schaften nur um sich kreisen, sich ziellos in den Nebeln und Wolken der Metaphysik verlaufen oder an tertiären Themen aufreiben und verbrauchen. Dialog braucht Stofflichkeit. Greifbare Ergebnisse, die die einzigartige Relevanz von Religion und ihrem Gestaltungsanspruch und -willen herausstellen. Einfach ausgedrückt: Dialog muss die Lebenswirklichkeit des Menschen wieder in den Blick nehmen. Dialog muss kühne Visionen und ehrgeizige Projekte entwerfen, die die Religionsgemeinschaften mittels ihrer Ressourcen und Kapazitäten angehen. Weniger Gedöns und mehr Aktion. Religionsgemeinschaften sollten Arbeitsgemeinschaften statt Wortgemeinschaften sein. Sie sollten sich ihrer planetaren Verantwortung als Zeichen Gottes in der Welt bewusst sein und durch ihr Handeln in Nächstenliebe diese Welt transformieren. Gerade die Zusammenarbeit und Kooperation zwischen Gläubigen unterschiedlicher Religionen, Schulter an Schulter, Hand in Hand schaffen mehr Vertrauen, Bindung und Einsicht als jedes Wort.
    Folglich bedeutet dies, dass kein Handeln des Menschen und keine Wissenschaft an der Frage der Menschlichkeit vorbeikommen. Schutzmaßnahmen bzgl. des Klimawandels müssen wir jetzt ergreifen, einen neuen Umgang mit der Schöpfung hinsichtlich Landwirtschaft, Tierhaltung, Ernährung, Konsum und Ressourcenverbrauch sowie fairen Handel, einer grüner Architektur (historisches Stichwort: Gartenstadt) und eines menschenwürdigen Wohnens müssen wir jetzt erlernen. Hierbei tatkräftig und messbar mitzuwirken, sollte Kern des interreligiösen Dialogs sein, der ein Dialog der Verantwortung sein sollte, sowohl intra- als auch intergenerational. Sein Ziel wird dieser Dialog erreicht haben, wenn das Prinzip insāniyya Sozialprinzip geworden ist und der Lebensraum Erde so geteilt wird, dass alle, heute und morgen, einigermaßen gut leben können, aber auch die Ressourcen der Erde nicht überstrapaziert werden.


    Einzelnachweise

     

    1. Jüdische Allgemeine (2020).
    2. Fuchs, Christian (2020).
    3. Vgl. Bachmann-Medick, Doris (2004).
    4. Weizsäcker, Richard von (1985).
    5. Küng, Hans (2008: 135).
    6. Siehe: Interreligiöser Think-Tank (2015): Leitfaden für den interreligiösen Dialog. Basel.
    7. Vgl. Bachmann-Medick, Doris (2004).
    8. Lanz, Markus (2020).
    9. Marchard, Jan Michael (2020).
    10. Vgl. Murtaza, Muhammad Sameer (2016: 344).
    11. Vgl. Krone, Lisa-Marie (2022: 69).
    12. Vgl. ebda. (72).
    13. King, Martin Luther (1968: 51).
    14. Vgl. Krone, Lisa-Marie (2022: 73).
    15. Scheliha, Arnulf von (2019: 18).
    16. Vgl. Klinkhammer, Gritt (2022: 217)
    17. Vgl. ebda. (225).
    18. Vgl. Nida-Rümelin, Julian (2023: 128).
    19. Vgl. Nida-Rümelin, Julian (2023: 19-20).
    20. Devji, Faisal (2013: 227-228).
    21. Vgl. Engineer, Ashgar Ali (2011: 173-174).
    22. Vgl. Knobbe, Martin; Traufetter, Gerald (2020).
    23. Vgl. Engineer, Ashgar Ali (2011: 184).
    24. Vgl. Lahbabi, Mohamed Aziz (2011: 183).
    25. Schmitt, Stefan (2017: 1).
    26. Vgl. ebda.
    27. Vgl. Quintern, Detlev (2010: 8).
    28. Vgl. ebda. (132).
    29. Vgl. ebda. (137).
    30. Vgl. Quintern, Detlev; Ramahi, Kamal (2006: 112).
    31. Ebda.
    32. Vgl. ebda. (332).

     

    Literatur

    Bachmann-Medick, Doris (2004): Einsturzgefahr beim völkerverbindenden Brückenbau. Internet: https://www.bachmann-medick.de/wp-content/uploads/2019/02/Einsturzgefahr.pdf (30.09.2020).
    Devji, Faisal (2013): Muslim Zion. Pakistan as a political Idea. London.
    Engineer, Asghar Ali (2011): The Prophet of Non-Violence. Spirit of Peace, Compassion & Universality in Islam. New Delhi.
    Fuchs, Christian (2020): „Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AFD“. Internet: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-09/christian-lueth-afd-alexander-gauland-menschenfeindlichkeit-migration/komplettansicht (24.10.2020).
    Interreligiöser Think-Tank (2015): Leitfaden für den interreligiösen Dialog. Basel.
    Jüdische Allgemeine (2020): „Antisemitische, frauenfeindliche Agenda“. Internet: https://www.juedische-allgemeine.de/politik/antisemitische-frauenfeindliche-agenda/?q=schr%C3%B6ter (24.10.2020).
    King, Martin Luther (1968): Wohin führt unser Weg? Chaos – oder Gemeinschaft. Düsseldorf.
    Klinkhammer, Gritt (2022): Der christlich-muslimische Dialog und sein enges Verhältnis zur
    massenmedialen Berichterstattung. In: Güneş, Merdan; Kubik, Andreas; Steins, Georg: Macht im interreligiösen Dialog: Interdisziplinäre Perspektiven. Freiburg im Breisgau: 211-235.
    Knobbe, Martin; Traufetter, Gerald (2020): „Wir katapultieren uns in eine Superwarmzeit“. Internet: https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/gerald-haug-zur-klimakrise-wir-katapultieren-uns-in-eine-superwarmzeit-a-00000000-0002-0001-0000-000173621985 (05.03.2021).
    Küng, Hans (2008): Projekt Weltethos. München.
    Krone, Lisa-Marie (2022): Hannah Arendt über die Macht der Gemeinschaft. In: Güneş, Merdan; Kubik, Andreas; Steins, Georg: Macht im interreligiösen Dialog: Interdisziplinäre Perspektiven. Freiburg im Breisgau: 68-74.
    Lahbabi, Mohamed Aziz (2011): Der Mensch: Zeuge Gottes. Entwurf einer islamischen Anthropologie. Freiburg.
    Lanz, Markus (2020): Sendung vom 24.09.2020. Internet: https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-24-september-2020-100.html (ab 1:05:28) (24.10.2020).
    Marchard, Jan Michael (2020): Islamtheologe Khorchide: „Politischer Islam ist viel gefährlicher als Jihadismus“. Internet: https://www.derstandard.at/story/2000118871137/islamtheologe-khorchide-politischer-islam-viel-gefaehrlicher-als-jihadismus (24.10.2020).
    Murtaza, Muhammad Sameer (2016): Islamische Existenzialphilosophie – Muhammad Iqbal nietzscheanisch gelesen. Norderstedt.
    Nida-Rümelin, Julian (2023): „Cancel Culture“: Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken. München.
    Quintern, Detlev (2010): Horizonte eines neuen Humanismus. Nordhausen.
    Quintern, Detlev; Ramahi, Kamal (2006): Qaramaṭen und Iḫwān aṣ-ṣafāʾ. Gerechtigkeitsbewegungen unter den Abbāsiden und die Universalistische Geschichtstheorie. Hamburg.
    Scheliha, Arnulf von (2019): Politik im neutralen, säkularen Staat – Wie reagier(t)en die christlichen Konfessionen und Kirchen? In: Mokrosch, Reinhold; El Mallouki, Habib: Religionen und der globale Wandel: Politik, Wirtschaft, Bildung. Stuttgart: 17-28.
    Schmitt, Stefan (2017): Es wird eng. In: Die ZEIT (2): 1.
    Weizsäcker, Richard von (1985): Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zur Eröffnung des VII. Kongresses der internationalen Vereinigung für germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft. Internet: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/08/19850826_Rede.html (20.07.2024).


    04
    Sep.
    Essay: Die Frage der Macht

    von Ahmet Aygün

    Es ist ein Trugschluss, zu glauben, dass erst mit Machiavellis Il Principe die Frage der Macht zu einer zentralen Frage der Philosophie avanciert sei, auch wenn dies gängige Praxis in außerakademischen Kreisen zu sein scheint. Bereits in der Antike spricht Platon das Problem der Macht an. In seiner utopischen Schrift Politeia erzählt Platons Glaukon die Geschichte von Gyges, einem Hirten, der einen magischen Ring findet, der ihn unsichtbar macht. Glaukon argumentiert, dass ein Mensch, der solch eine Macht besitzt, unvermeidlich unmoralisch handeln würde, da er keine Furcht vor Konsequenzen haben muss. Dieses Dilemma stellt die Frage nach der Beziehung zwischen Macht, möglicher Gewalt, Moral und Gerechtigkeit. Die Frage der Macht ist eine vielschichtige Frage. Die Untersuchung von Macht kann somit konsequenterweise nicht ganz isoliert erfolgen. Wir im Netzwerk muslimischer Akademiker haben aus diesem Grund neben der Macht auch Gewalt unter die Lupe genommen, da dies grosso modo eines der zentralen gegenwärtigen Dilemmata der politischen Philosophie darstellt. Seit der Antike mit Platons und Aristoteles‘ Schriften über das Mittelalter bis hin zu den modernen Theorien von Machiavelli, Hobbes und Foucault, ist die Frage nach der Natur und der Legitimität von Macht und Gewalt ein kontinuierlicher Gegenstand philosophischer Reflexion und Debatte geblieben. Diese Themen sind nicht nur theoretisch von Bedeutung, sondern auch heutigen Tages von eminenter praktischer Relevanz, da sie die Grundlagen politischer Ordnungen und sozialer Gerechtigkeit berühren.

    Unsere Frage nach Macht und Gewalt wollen wir auf der Grundlage von drei Ansätzen untersuchen. Ziel ist es, das Wesen von Macht und Gewalt in der modernen Gesellschaft zu erforschen und die Anwendbarkeit der drei Theorien zu hinterfragen. Dabei wollen wir insbesondere der Frage nachgehen, ob Macht eine inhärente Bösartigkeit besitzt. Neigen Menschen in Machtpositionen automatisch dazu, böswillig zu handeln und ihre aufrichtigen Absichten zu verlieren? Mit anderen Worten: Hat die Macht eine korrumpierende Wirkung auf den Menschen? Und was ist mit dem Begriff der Gewalt? Ist Gewalt vielleicht das eigentlich Böse?

    1. Im ersten Schritt haben wir Macht und Gewalt auf staatlicher und institutioneller Ebene versucht zu verstehen, indem wir uns der Lektüre des Werks „Macht und Gewalt“ von Hannah Arendt gewidmet haben. Arendt, eine bedeutende politische Denkerin des 20. Jahrhunderts, betrachtet Macht als ein konstruktives Phänomen, das auf der Fähigkeit der Menschen basiert, gemeinsam zu handeln und politische Entscheidungen zu treffen. Macht entsteht aus der kollektiven Aktion und dem Zusammenwirken von Menschen innerhalb eines politischen Raumes, in dem Diskussionen, Verhandlungen und Kompromisse stattfinden. Sie betont die Bedeutung des öffentlichen Raums, in dem Menschen als politische Wesen agieren und ihre Freiheit und Würde verwirklichen können. In diesem Sinne ist Macht für sie eine positive Kraft, die es den Menschen ermöglicht, ihre Welt zu gestalten und sich als Teil einer politischen Gemeinschaft zu verstehen. Macht ist intrinsisch mit Legitimität verbunden und benötigt keine Gewalt, um sich durchzusetzen. Sie basiert auf Zustimmung und wird durch die Partizipation und das Einverständnis der Bürger gestärkt: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, wie die Gruppe zusammenhält.”¹

    Im Gegensatz zur Macht beschreibt Arendt Gewalt als ein Instrument oder Werkzeug, das eingesetzt wird, um bestimmte Ziele zu erreichen. Gewalt ist in ihrer Natur physisch und zerstörerisch. Gewalt kann Macht nicht erzeugen, sondern tritt oft dann auf, wenn die Macht zerbricht oder fehlt. Sie wird verwendet, um Machtverlust zu kompensieren, aber sie ist immer ein Zeichen von Schwäche und nicht von Stärke. Arendt definiert Gewalt als eine Form der Machtausübung, die darauf abzielt, Menschen daran zu hindern, sich politisch zu beteiligen, oder die darauf zurückzuführen ist, dass politische Prozesse versagen. Sie unterscheidet zwischen Macht, die aus gemeinsamer Aktion entsteht, und Gewalt, die durch die Instrumentalisierung von Zwang und Gewaltmitteln erreicht wird. Arendt warnt zudem vor den Gefahren der Gewalt, da diese das Fundament der politischen Gemeinschaft untergräbt und zu autoritären Strukturen führen kann.

    „Politisch gesprochen genügt es nicht zu sagen, dass Macht und Gewalt nicht dasselbe sind. Macht und Gewalt sind Gegensätze: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden. Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist.“²

    2. Im zweiten Schritt haben wir den Blick auf Robert Greene gerichtet, einen Mann, der für seine Werke über Macht und Strategie bekannt ist und in seinem Buch „The 48 Laws of Power” (zu Deutsch: „Power – Die 48 Gesetze der Macht”) und weiteren Veröffentlichungen eine alternative Perspektive zum Thema Macht und Gewalt präsentiert. Greene betont in seinen Werken häufig die Bedeutung von Macht als zentrales Element menschlicher Interaktion und Erfolg. Unsere Beschäftigung war in diesem Schritt also psychologischer und persönlicher Natur.

    Niccolò Machiavelli: „Ein Mensch, der immer nur das Gute möchte, wird zwangsläufig zugrunde gehen inmitten von so vielen Menschen, die nicht gut sind.”³

    Greene argumentiert in machiavellistischer Manier, dass es besser sei, Macht zu verstehen und zu nutzen, als von ihr beherrscht zu werden. Er beschreibt verschiedene Strategien und Taktiken, die Menschen anwenden können, um Macht zu erlangen und behalten, insbesondere wenn sie in politischen, geschäftlichen oder persönlichen Kontexten agieren.

    „Macht involviert immer eine Beziehung von Menschen.”⁴

    In Bezug auf Gewalt ist Greenes Perspektive komplex. Während er Gewalt nicht direkt als Instrument der Macht in seinen Büchern behandelt, beschreibt er den Einsatz von Härte und Entschlossenheit als mögliche Taktiken, um Macht zu sichern und Feinde abzuschrecken. Zudem betont er auch die Bedeutung von Raffinesse und Strategie, um Konflikte zu vermeiden oder zu minimieren. In seiner Darstellung des Themas Macht und Gewalt präsentiert Robert Greene eine pragmatische und oft zynische Sichtweise, die darauf abzielt, die Realitäten der menschlichen Natur und des sozialen Lebens zu verstehen und eigennützig auszunutzen. Dennoch betont er, dass er seinen eigenen Regeln nicht folgen würde. Selbst der Autor würde nicht alle seine Ratschläge in seiner Gesamtheit befolgen, da er selbst sagt: „Anybody who did would be a horrible ugly person to be around.“⁵

    3. In Hannah Arendts Werk „Macht und Gewalt“ sind wir auf Frantz Fanon, den Vordenker der Entkolonialisierung, gestoßen. In seinem antikolonialistischen Manifest „Die Verdammten dieser Erde” beschreibt er die dehumanisierende Wirkung des Kolonialismus auf kolonisierte Völker. Für ihn spielt Gewalt eine große Rolle im Prozess der Befreiung. Fanon argumentiert, dass die Unterdrückten die Notwendigkeit der Gewalt erkennen müssen, um die bestehenden Machtverhältnisse zu durchbrechen und ihre Freiheit zu erlangen. Er sieht Gewalt als Mittel zur Umkehrung der Machtverhältnisse. Für Fanon stellt Gewalt ein notwendiges Mittel für die Unterdrückten dar, um ihre Freiheit und Würde zurückzugewinnen: „Die Intuition der kolonisierten Massen begreift also plötzlich, dass ihre Befreiung durch Gewalt geschehen muss und nur durch Gewalt geschehen kann.“⁶. Das geschieht allerdings nicht unbegründet und auch nicht im luftleeren Raum, sondern in der Tradition ihrer Unterdrücker. Denn die Eingeborenen (die unterdrückten indigenen Völker) wissen, dass sie keine Tiere sind, wie sie von den Unterdrückten behandelt werden. Und zu dem Zeitpunkt, wo ihnen klar wird, dass sie Menschen sind, beginnen sie, zu den Waffen zu greifen (vgl. ebd.: 36). Als Psychiater und politischer Denker untersuchte Fanon die psychologischen Auswirkungen der Kolonisierung. Für ihn war der nationale Befreiungskampf ein Prozess der psychischen Heilung und der Wiederherstellung von Selbstachtung und Würde. Die Bildung einer nationalen Identität und der Kampf um Unabhängigkeit halfen, die psychischen Wunden der Kolonialisierung zu heilen. Neben der Lektüre haben wir die gelesenen Werke auch besprochen, einander gegenübergestellt und auch in philosophischer Manier reflektiert. Unschwer haben wir eruieren können, dass Arendts Ansatz zur Macht und Gewalt im klaren Widerspruch zu Fanons revolutionärer Vision steht. Während Arendt die Bedeutung des politischen Prozesses und der gemeinsamen Aktion betont, sieht Fanon Gewalt als ein unvermeidliches Mittel zur Befreiung von Unterdrückung. Wichtig war dabei den historischen Kontext beider Werke zu berücksichtigen.

    Abschließend kann man erkennen, dass böswillige und ethisch verwerfliche Taten, die oft als Symptome von Macht und Gewalt betrachtet werden, nicht inhärent aus diesen entstehen. Weder in der Machterlangung noch in der Gewaltausübung liegt das ethisch Verwerfliche als definitorisches Attribut vor. Vielmehr wird in den Erscheinungsformen der Machterlangung und Gewaltausübung das Böse fälschlicherweise als Ursache vermutet. Während Robert Greene erklärt, dass die Welt von böswilligen Akteuren im Machtspiel dominiert wird, stellt Hannah Arendt die Macht als politische Kraft dar, die durch kollektives Handeln und Zustimmung konstruktiv genutzt werden kann. Sie vermutet eher in der Gewalt das ethisch Verwerfliche, welches als einen destruktiven Gegensatz zu der Macht steht. Für sie heben sich die Macht und die Gewalt gegenseitig auf. Frantz Fanon hingegen sieht selbst in der Gewalt als ein Mittel zur Wiederherstellung des Guten, wenn die böse Macht Oberhand gewinnt. Für ihn kann Gewalt in bestimmten Situationen sogar als notwendiges Mittel zur Überwindung von Unterdrückung dienen. In einer Welt, in der oft die Bösen zu dominieren scheinen oder strukturelle Gewalt durch den Kolonialismus Alltag sind, müssen die Unterdrückten manchmal zu extremen Mitteln greifen, um Gerechtigkeit und Freiheit zu erlangen. Diese Ambiguität zeigt, dass sowohl Macht als auch Gewalt stets im Lichte ihrer jeweiligen Umstände und Ziele betrachtet werden müssen, um ihr wahres Wesen und ihre ethische Bedeutung zu verstehen.

    Literatur:

    1. Arendt, Hannah (1970): Macht und Gewalt. Piper Verlag
    2. Fanon, Frantz. (1961): Die Verdammten dieser Erde. Suhrkamp Verlag
    3. Greene, Robert. (2000): The 48 Laws of Power. Penguin Books
    4. Anybody who did would be a horrible ugly person to be around.“ (Daily Telegraph, 2012)
      https://www.telegraph.co.uk/culture/books/authorinterviews/9695967/Why-Robert-Greene-
      isnt-who-you-think.html *(letzter Zugriff: 01.06.24)

    Einzelnachweise:

    1. Hannah Arendt: Macht und Gewalt. Aus dem Englischen v. Gisela Zellenberg, München, Piper Verlag, 2003, S.45
    2. Hannah Arendt: Macht und Gewalt. Aus dem Englischen v. Gisela Zellenberg, München, Piper Verlag, 2003, S. 5
    3. Robert Greene: Power. Die 48 Gesetze der Macht. Aus dem Englischen v. Hartmut Schickert und Birgit Brandau, 27. Auflage, München, Hanser Verlag, 2023, S. 12
    4. Robert Greene: Power. Die 48 Gesetze der Macht. Aus dem Englischen v. Hartmut Schickert und Birgit Brandau, 27. Auflage, München, Hanser Verlag, 2023, S. 64
    5. https://www.telegraph.co.uk/culture/books/authorinterviews/9695967/Why-Robert-Greene-isnt-who-you-think.html (Daily Telegraph, 2012) Zugriff: 11.05
    6. Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Aus dem Französischen v. Traugott König, Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, 1969, S.56


    07
    Apr.
    Wortbeitrag des NmA-Vorsitzenden zum Jusos-Iftar am 06.04.24 im Bucerius-Law-School

     

    Meine verehrten Damen und Herren, liebe Funktionäre, liebe Freunde,

    der Friede sei mit Ihnen allen! ESA…
    Ich möchte mich für die Einladung sehr herzlich bedanken – im
    Namen des Bündnisses der Islamischen Gemeinden in
    Norddeutschland und im Namen meines Vorstands, des Netzwerks muslimischer Akademiker.

    Liebe Freunde, lassen Sie mich meine Ausführungen mit einem
    Gleichnis des gesegneten Propheten beginnen, das mit dem
    literarischen Symbol des Schiffes an unsere Hansestadt anknüpft:
    Zitat: „Das Gleichnis dessen, der Grenzen beachtet, und dessen,
    der diese überschreitet, ist wie Reisende auf einem Schiff, die per
    Los zugeordnet werden, wer auf das Oberdeck soll und wer unter
    das Deck. Jene unter Deck mussten immer über das Oberdeck
    gehen, um (ihr Bedürfnis zu stillen:) Wasser zu holen. So kamen sie
    nach einer Weile auf einen Gedanken und schlugen den Leuten
    vom Oberdeck vor, ein Loch in den Schiffsboden zu bohren, um so
    Wasser zu schöpfen, […]“
    Der gesegnete Prophet führt aus: „Wenn die Bewohner des
    Oberdecks die anderen ihren Plan durchführen ließen, würden sie
    alle gemeinsam untergehen; aber wenn sie diese bei der Hand
    nähmen und sie davon abhielten, würden sie alle gerettet
    werden.“ (Al-Bukhari) (Zitat Ende)

    Es geht mir heute nicht um eine theologische Darstellung, vielmehr um die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich hier ableiten lassen.
    Gelehrte deuten die Reisenden auf dem Oberdeck ua. als
    Führungspersonen, Institutionen, ja vielleicht die Exekutive; die
    Menschen unter Deck als das Volk, die Basis.
    Es ist zweifellos lebenswichtig, dass das Oberdeck die Belange
    des Unterdecks versteht, sie im Auge behält und in einer gesunden Beziehung zu ihnen Regeln setzt. Es ist auch wichtig, dass das Oberdeck die Menschen im Unterdeck nicht gegeneinander ausspielt, dass es Frieden und Harmonie stiftet, dass es ihre Interessen im Auge behält. Das Oberdeck darf nicht in
    Wortgefechten ausufern, die das Schiff ins Wanken bringen oder
    gefährden könnten. Wenn das Schiff sinkt, sinken alle, ohne
    Ausnahme.
    Sitzen nicht wir alle in so einem Schiff? Wenn es Deutschland gut
    geht, geht es uns allen gut. Geht es der Bevölkerung gut, geht es
    dem ganzen Schiff gut, den Passagieren auch auf dem Oberdeck.
    Dafür stehen wir hinter unserer Demokratie, die als Staatsform die
    Gleichheit aller vor dem Gesetz garantiert.
    Die Bürger unserer schönen Stadt sind Mütter, Kinder, Juden,
    Atheistinnen, Bauarbeiter, Rechtsanwältinnen, Gärtner usw. und
    gehören vor allem dem unteren Deck an. Sie bilden die Basis.
    Doch in den letzten Monaten wurde die Basis kräftig
    durchgeschüttelt. Heftige Stürme setzten dem Schiff zu.
    Chauvinistische Rassisten trafen sich in Potsdam und
    beanspruchten das Schiff für sich, um andere von Bord zu werfen.
    Das Unterdeck gab sich tapfer, animierte das ganze Schiff zu
    großen Demonstrationen. Das Oberdeck freute sich und verlor
    doch den ganzheitlichen Blick: Der Bericht des Innenministeriums
    zur Muslimfeindlichkeit wurde nach minimaler Wirkung
    zurückgezogen. Erst kürzlich gab es wieder einen Brandanschlag
    in Solingen, bei dem Menschen muslimischen Glaubens starben.
    Die Gemüter sind beunruhigt. 134 islamfeindliche Straftaten allein
    im zweiten Quartal des vergangenen Jahres. Zu meinem Bedauern
    musste ich nach all dem feststellen, dass die Genossinnen und
    Genossen die Muslimfeindlichkeit in ihrem aktuellen
    Europawahlprogramm ausgeklammert haben.
    Gleichzeitig führte die monoperspektivische Berichterstattung in
    Deutschland zu einer Gemütsunterdrückung im Unterdeck. Ein Teil des Unterdecks wandte sich gegen die Gewaltspirale im Nahen Osten und wollte ihrer Verzweiflung durch legale
    Meinungskundgebung Ausdruck verleihen. Die politischen
    Verhältnisse wurden jedoch entschlossen gegen die
    Menschenwürde aufgewogen. Regierungsmitglieder äußerten sich
    paternalistisch gegenüber der muslimischen Gemeinschaft.
    Der Geist war verwirrt, der Mund verschlossen, der Körper erstarrt,
    aber die Augen sahen weiter das Grauen in Gaza.
    „Wer viel einst zu verkünden hat
    Schweigt viel in sich hinein.
    Wer einst den Blitz zu zünden hat,
    Muss lange – Wolke sein.“, wie Nietzsche weise dichtet.
    Und siehe da, das Narrativ ändert sich… Es öffnen sich Fenster der
    Hoffnung: Politische und religiöse Größen wie Vizepräsidentin des
    Bundestages Aydan Özoguz, Bischöfin Kirsten Vehrs, der jüdische
    Vorsitzende Sammy Jossifoff und der BIG-Vorsitzende Mehmet
    Karaoglu konstatierten vor wenigen Tagen im Chor, dass jedes
    Opfer eines zu viel sei und Leid nicht gegen anderes Leid
    aufgewogen werden dürfe.

    Das Schiff fährt also weiter, so viel ist sicher. Die Muslime in Deutschland werden die vergangenen Monate sicher nicht vergessen. Sie stellen eine Zäsur dar. Muslimen ist es nicht gestattet, die Hoffnung aufzugeben… Sie wissen nämlich, dass Gott die Instanz ist, die unermüdlich hilft. Den Zustand in seiner Gänze anzunehmen (riza) und dennoch nach dem Guten zu streben (emr-i bilmaruf) ist das muhammedische Lebensverständnis. Es werden neue Allianzen geschmiedet, neue Wege gesucht und noch mehr soziales Engagement gezeigt, damit es uns allen Hamburgern in der Zukunft besser geht. Gerne möchte ich noch einen weiteren Hoffnungsträger vorstellen: Das Netzwerk muslimischer Akademiker. 

    Das Netzwerk fährt zweigleisig. Zum einen setzen wir auf die ideelle Förderung von Akademikerinnen und Akademikern, mit dem Ziel, das kritische und nachhaltige Denken in muslimischen Kreisen zu stärken und die muslimische Sicht auf gesellschaftliche Fragen in muslimische wie nichtmuslimische Denkkreise und Institutionen hineinzutragen. (Wir lesen und denken viel in Lesezirkeln und an Themenabenden.) Zum anderen bündeln wir die Kräfte in Berufsgruppen. Im letzten Jahr sind sechs Stammtische entstanden. Hier fördern wir die Vernetzung von Akademikerinnen und Akademikern sowie Unternehmerinnen und Unternehmern muslimischen Glaubens und ermutigen sie, die Gesellschaft mitzugestalten. Zuletzt trafen sie sich zu Meet und Muhabbet und entwickelten Projekte zur Gestaltung der Gemeindearbeit. Die Stammtische bieten intern wie extern Fortbildungen und Gesprächskreise an. So ermutigen sich unsere Mitglieder gegenseitig, Stadt und Gesellschaft stärker im Blick zu behalten. Wir erreichen derzeit über 500 Hochschulabsolventinnen und -absolventen in und um Hamburg.

    Ich möchte meine Ausführungen mit dem ehrenwerten Dichter und Denker des Organischen, des Ganzheitlichen abschließen. Johann Wolfgang von Goethe beschreibt in einem Gespräch mit
    Eckermann, einem engen Vertrauten, wie ein gewaltsames
    Eingreifen des Unterdecks seinen Sinn verliert, wenn das Oberdeck
    wachsam und aufmerksam ist. Zitat: „Auch ich war vollkommen
    überzeugt, dass irgendeine große Revolution nie Schuld des Volkes ist, sondern der Regierung. Revolutionen sind ganz unmöglich, sobald die Regierungen fortwährend gerecht und fortwährend wach sind, sodass sie ihnen durch zeitgemäße Verbesserungen entgegenkommen und sich nicht so lange sträuben, bis das Notwendige von unten her erzwungen wird.“ (Zitat Ende)

    Liebe Freunde, lassen wir uns von niemandem ein Loch in den
    Schiffsboden bohren.
    Heute ist der 28. Ramadan. Wir Muslime verabschieden uns vom
    Monat der Läuterung der Herzen, der Gebete und der weit
    geöffneten Pforten Gottes. Sie als Jusos haben uns hier in diesen
    schönen Räumlichkeiten des Bucerius Law Schools zu einem IftarMahl versammelt. Für uns Muslime steht der Iftar für die
    Verbindung von Tüchtigkeit und Spiritualität. Es ist die höchste
    Form der Dankbarkeit. Und Sie teilen unsere Dankbarkeit, das ist
    eine besondere Geste…
    In diesem Sinne bedanke ich mich nochmals für die Einladung und
    freue mich auf die Gespräche mit Ihnen…


    07
    Dez.
    Themenabend: Moral und die Ästhetik in der Flüchtigen Moderne – Eine Perspektive aus dem Sufitum

    von Dr. Raid Al-Daghistani (Universität Münster)

     

      1. Was ist Sufitum?

      Man kann zunächst feststellen, dass der Begriff „Sufismus“ oder auch „Sufitum“ (arab. taṣawwuf) ein im deutschsprachigen Raum relativ etablierter Begriff ist. Doch was Sufitum sowohl in seinen wesentlichen Bestimmungen, d. h. seinen theoretischen Grundsätzen und verschiedenen praktischen Umsetzungen nach sowie in seinen historischen Kontexten tatsächlich bedeutet, wird immer noch sowohl unter MuslimInnen als auch NichtmuslimInnen kaum – wenn überhaupt – entsprechend wahrgenommen. Die mannigfaltigen Facetten des Sufitums erschweren Versuche zur Bestimmung eines einheitlichen Wesens sowie seine genauere Verortung innerhalb des Islams. Annemarie Schimmel macht dies zum Beispiel unter Rückgriff auf die bildreiche Sprache der Sufis deutlich.

      Doch man sollte zunächst zum arabischen Originalbegriff zurückkehren. Der Begriff „Sufitum“ bzw.

      „Sufismus“ ist nämlich eine deutsche Umschreibung des arabischen Begriffes taṣawwuf. Dieser wird in der klassischen Sufi-Literatur mindestens auf die folgenden drei häufigsten Erklärungsversuche zurückgeführt: (1) auf ṣūf, was auf Arabisch „Wolle“ bedeutet und auf die typischen Wollgewänder der ersten muslimischen Asketen und Asketinnen hinweist; (2) auf ṣafāʾ, was auf Arabisch „Reinheit“ bedeutet und auf die spirituelle Läuterung und die Bemühung um die Herzensreinheit der Sufi- MystikerInnen hinweist; und (3) auf ṣaff, was auf Arabisch „Reihe“ bedeutet und sich auf die Sufi- Haltung bezieht, sich in der ersten „Reihe“ vor Gott zu stellen bzw. Gott in der ersten Reihe in eigenem Herzen zu stellen. Das sind die gängigsten und meistverbreiteten Erklärungsversuche des Begriffes taṣawwuf. Doch wie der Sufi-Meister und der Autor eines der bedeutendsten Handbücher zum Sufismus, Abū l-Qāsim al-Qušayrī (gest. 1072), trefflich beobachtet, kann keine dieser Erklärungsversuche allein das Wesen und die Ganzheit des Sufitums wiedergeben. Denn, das Sufitum als Wissen, Weg und Wirklichkeitserfahrung ist mehr als das, was seine rein etymologische Bedeutung wiedergibt.

      Im Allgemeinen lässt sich jedoch das Sufitum im Sinne der mystischen Dimension (A. Schimmel) bzw. der purgativ-kontemplativen Tradition im Islam (A. Knysh) als eine besondere Form der islamischen Frömmigkeit (A. Karamustafa) und als sowohl einen Initiationsweg als auch eine Wissenschaft des Inneren, ʿilm al-bāṭin, (È. Geoffroy) bezeichnen.

      Genauer betrachtet, kann das Sufitum – und das ist mein Versuch einer Definition dieses Phänomens – als einen initiatischen und stufenartigen Läuterungs- und Erkenntnisweg (ṭarīqa/sulū) im Islam interpretiert werden, der formell mit der inneren Umkehr (Akt der Reue) beginnt und der aus verschiedenen sogenannten spirituellen „Stationen“ (maqāmāt) und inneren „Zuständen“ (aḥwāl) besteht. Das höchste Ziel dieses Weges ist die auf der geistigen Reinheit und mystischen Erkenntnis gegründete moralisch-religiöse Vervollkommnung (iḥsān) des Menschen, die wiederum mit der mystischen Gotteserfahrung- bzw. Gotteserkenntnis (fanāʾ fī-llāh; maʿrifa) eng zusammenhängt.

       

      2. Sufitum als Ethik und Ethos

      Trotz seiner zahlreichen Facetten und Aspekte wird das Sufitum von seinen prominentesten Vertreterinnen und Vertreter mehrheitlich und primär gerade als einen Weg der religiös-moralischen Vervollkommnung aufgefasst und somit im Horizont der spirituellen Läuterung, der Kultivierung der Tugenden, der Umwandlung persönlicher Eigenschaften und der Bildung des eigenen Charakters verstanden.

      Ein solches Verständnis geht auf einen Hadith, auf eine islamische Überlieferung zurück, nach welcher der Prophet Muhammed (s.a.w.s.) vom Engel Gabriel nach drei Grunddimensionen der islamischen Religion gefragt wurde: nach dem Islām, nach dem Imān und nach dem Iḥsān. Während er den Islām durch die sogenannten fünf Säulen der Religion und den Imāndurch die sechs Glaubensgrundsätze des Islams definiert hat, gab er auf die Frage, was Iḥsānsei, eine Antwort, die zum Leitmotiv und zum Ideal der Frömmigkeit und Moralität im Sufitum wurde: „Dass du Gott so anbetest, als ob du Ihn sehen würdest und auch wenn du Ihn nicht siehst, wisse, dass Er dich sieht.“ Der Iḥsān steht somit für die Vervollkommnung des religiösen Bewusstseins und für die Vervollständigung der damit zusammenhängenden Daseinsweise des Menschen.

      So wird das Sufitum in der ersten Linien als einen Weg der spirituellen Reinheit im Islam verstanden, der verschiedene purgative Techniken und Methoden umfasst, wie z.B.: Reue, Verzichtsübung, Kultivierung der Bescheidenheit, Achtsamkeitstraining, Meditation in Form des rituellen Gottgedenkens (manchmal auch in Begleitung der Musik und des Gesangs), religiöse Introspektion, Gebet und auch physische Arbeit. Kurzum: Das Sufitum kann als eine Tätigkeitssphäre für die Kultivierung der Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit interpretiert werden, zu welchen die Geduld, Dankbarkeit, Demut, Großzügigkeit, Güte, Gottesfurcht, Liebe und Ichlosigkeit im Vordergrund steht. Im Sufitum geht es um Selbstdisziplin und Selbstüberwindung.

      Das Sufitum wird häufig schlicht mit der Erlangung der Gutartigkeit gleichgesetzt, die auch das Hauptmerkmal der Sufi Mystikerinnen und Mystiker darstellen sollte. Diesbezüglich konstatiert der Autor des Handbuches zum Sufismus Adab al-Mulūk (Die Lebensweise der Könige), hier in der Übersetzung von Richard Gramlich, Folgendes: „Die Charaktereigenschaften der Sufis sind Gutartigkeit (aḫlāq), sanftes Sprechen, Friedfertigkeit, heiteres Aussehen, fröhliches Auftreten, Liebe und Altruismus (…) […] Man sagt: Sufitum ist Gutartigkeit.“ (Gramlich, Die Lebensweise der Könige / Adab al-Mulūk, S. 91)

      Die paradigmatische Formulierung des Sufismus als einen Weg der Gutartigkeit par excellence finden wir aber bei dem bereits mehrmals erwähnten Sufi-Meister aus Bagdad, der auch weit über den Sufi-Kreisen hinaus als religiöse Autorität anerkannt und respektiert wird, nämlich Abū l-Qāsim al-Ǧunayd, der behauptet kategorisch: „Sufitum ist Gutartigkeit [ḫulūq, guter Charakter]. Wer dich an Gutartigkeit übertrifft, übertrifft dich an Sufitum.“ So zählen zu den edelsten Moralqualitäten und besten Eigenschaften, die man sich aneignen soll, die folgenden Tugenden: Geduld, Milde, Ehrlichkeit, Gottesfürchtigkeit, Aufrichtigkeit, Vergeben, Dankbarkeit, Gutartigkeit, Nachsichtigkeit und Altruismus.

       

      3. Die Ästhetische Dimension des Sufitums

      Als eine komplementäre Dimension zum bereits geschilderten purgativ-moralischen Charakter des Sufitums kann die ästhetische Dimension herangezogen werden. Dabei lassen sich unter anderem mindestens die folgenden Aspekte, die auf einer oder anderer Weise mit Ästhetik, Schönheit und auch Sinnlichkeit zu tun haben, hervorheben:

          • Kontemplation der Schönheit und der Wunder der Schöpfung (tafakkur) als ein Weg zur Erkenntnis der göttlichen Erhabenheit, Weisheit und Allmacht (maʿrifat Allāh);

          • Bedeutung und Rolle der mystischen, durch Natursymbolik geprägten Poesie für die Erzeugung und Kultivierung des Charakters und des spirituellen Bewusstseins des Menschen;

          • Die Integration des Leibes und der Leiblichkeit in die sufische Spiritualität (passiver und aktiver Rolle des Leibes in der islamischen Mystik)

          • Erlangung der Ekstase mittels des religiösen Gesangs (Qawali-Lieder im indo-pakistanischen Kulturraum) und mittels der spirituellen Musik (samāʾ), die zu einer wichtigen rituellen Praxis der Sufis gehört;

          • extrovertierte Einheitserfahrungen (ittihād), die die mystische Erfahrung der Ich-Entgrenzung und der All-Einheit bzw. des Einswerdens mit dem Universum darstellen und auch eine existenzielle Voraussetzung für die Resonanz mit der Natur interpretiert werden können;

          • Verbindung des Sufitums mit der Kunst der Kalligraphie.

        Insbesondere in weitgespannten und überwiegend lyrischen Werken ʿAṭṭārs – dessen Werk auch im Rahmen der hiesigen Themenabende gelesen wurde – sind Naturphänomene sehr stark präsent. In seiner mystischen Dichtung und Geschichtserzählung herrscht nicht nur die Vorstellung, dass der Mensch durch die Natur – d.h. durch die Kontemplation über die Schöpfung und seine Wunder – zu Gott findet, sondern auch die Idee, dass Gott durch die Natur auf allen ihren Ebenen und Subebenen zu den Menschen spricht – und zwar nicht in einer „gesprochenen Sprache“, sondern in der Sprache des Zustandes, welche nicht nur mit bloßen Ohren und mit bloßem Verstand wahrgenommen wird, sondern vielmehr in einem Zustand der göttlichen „Eingebung“ (ilḥām) und mystischer „Enthüllung“ (kašf) und durch eine große Empfänglichkeit für das Schöne und das Geheimnisvolle.

        Darüber hinaus gehört die Erfahrung des Einsseins mit der Natur und mit dem Universum zu einer der häufigsten und grundlegendsten mystischen Erfahrungen des Menschen. In der extrovertierten Einheitserfahrung ist der Mensch durchdrungen vom Gefühl der unmittelbaren Vereinigung und Verschmelzung mit der Natur, mit der Umwelt, mit dem ganzen Kosmos. Es ist eine existenzielle Erfahrung der Ausdehnung des eigenen Selbst.

        Der andere Aspekt, der im Kontext der ästhetischen Dimension des Sufitums wenigstens kurz erwähnt werden soll, ist der sufische Bezug auf Kunst der Kalligraphie. Islam ist vielleicht wie keine andere Religion durch Ästhetik geprägt. Einem Prophetenspruch zufolge ist „Gott schön und Er liebt die Schönheit“ (Allahu ǧamilun wa yuhibu-l-ǧamāl). Für den pakistanischen Dichter und Philosophen Muhammad Iqbal ist die Gottesgegenwart selbst in Seiner Schönheit gegeben, die sich in jedem Seienden als Schönheit manifestiert. Die angesehene deutsche Islamwissenschaftlerin und Koranforscherin Angelika Neuwirth konstatiert diesbezüglich eindeutig: „Den Islam versteht erst, wer ihn ästhetisch begreift.“ Zugleich ist Islam wie kaum eine andere Religion durch das geschriebene Wort gekennzeichnet. Der Bereich, in dem Ästhetik und Schrift auf besondere Weise zusammentreffen, ist eben die Kunst der Kalligraphie, die wiederum sowohl geschichtlich als auch strukturell gesehen eine sehr starke Verbindung mit der mystischen Tradition des Sufitums aufweist. So lässt sich meiner Meinung nach in Bezug auf Kalligraphie von einer Spiritualisierung der Ästhetik und einer Ästhetisierung der Spiritualität sprechen. Das Verhältnis zwischen Kalligraphie und Mystik weist im Islam eine einzigartige Innendynamik auf. Denn erst die muslimischen Mystiker und Mystikerinnen ermöglichten die Erschließung der tieferen Bedeutung der Kalligraphie, indem sie sich durch Kontemplation und Meditation ihrem Wesen und ihrer Natur annäherten. Der sufischen Auffassung nach verbirgt die Offenbarungsschrift das Geheimwissen von einzelnen Buchstaben, deren Zahlenwert unter anderem zu „mystischen Interpretation von Namen und Begriffen“ führen kann. Kurzum: Der hermeneutische Ansatz der Sufis, in den einzelnen Buchstaben immer wieder neue Bedeutungen und Sinnebenen zu entdecken, fand ihren kreativsten Ausdruck eben in der Kalligraphie. Der Buchstabe erhebt sich daher in der islamischen mystischen Tradition zu einer subtilen „Manifestation des Göttlichen“. Es ist kein Zufall, dass die Kunst des Kalligraphierens jahrhundertelang in Kontexten frommer Alltagspraxis der Sufis und Derwische mit großer Hingabe und Kreativität gepflegt wurde. Mehr noch: Die Kunst der Kalligraphie stellt im Kontext des Sufitums geradezu eine Kontemplationsmethode über das koranische Wort und somit eine Technik des spirituellen Aufstiegs des Menschen zu Gott.

         

        4. Fazit: Sufitum – tauglich für die flüchtige Moderne?

        Abschließend können zusammenfassend die folgenden Punkte festgehalten werden: Das Sufitum (taṣawwuf) kann zu Recht als islamische Mystik im Sinne einer purgativ-kontemplativen Tradition im Islam interpretiert werden. Der Sufismus lässt sich in einer doppelten Grundbestimmung als stufenartiger „Weg“ (ṭarīq/sulūk) und spirituelles „Wissen“ (ʿilm) auffassen und stellt somit einen Läuterungs- und Erkenntnisweg im Islam dar. Das Ziel des Sufitums ist die mystische Gotteserfahrung, die mit der ethisch-spirituellen Vervollkommnung des Menschen (iḥsān) eng zusammenhängt (sein es als Ergebnis der intensiven Läuterung, sei es als eigentliche Voraussetzung für die spirituelle Reinheit). Beim Sufitum geht es primär um eine Geistigkeit, die ethisch ist, und um eine Ethik, die geistig ist. Die ethische Relevanz der spirituellen Läuterung im Sufismus besteht in zwei Hinsichten: als Prozess selbst (Stichwort: Selbstüberwindung) und als das angestrebte Ergebnis (Stichwort: Tugend und guter Charakter). Dabei spielt die ästhetische Dimension des Sufitums, die sich sowohl im sufischen Bezug auf die Natur als auch in seiner Verbindung mit der Kunst der Kalligraphie manifestiert, eine wichtige Rolle bei der Erziehung und Kultivierung des Charakters und der gesamten Persönlichkeit des Menschen. Außerdem spielen mystische Poesie, Integration der Leiblichkeit, religiöse Gesang und religiöse Musik eine wichtige Rolle im Kontext der sufischen Spiritualität. Somit kann das Sufitum als eine ganzheitliche Charakterbildung im Islam aufgefasst werden, die existenzielle, religiöse, ethische und ästhetische Aspekte umfasst. Und vielleicht kann das Sufitum somit zu einer Inspirationsquelle oder gar zu einem moralischen Kompass in der flüchtigen Moderne dienen.

         Natürlich lassen sich dabei vor dem Hintergrund der obigen Aspekte auch einige kritischen Fragen erheben: Kann man im Fall vom Sufitum tatsächlich schon von einer Ethik im systematisch, ausgearbeiteten Philosophie sprechen, oder geht es dabei vielmehr um Moral? Wie ist das Verhältnis zwischen dem universellen und dem genuin islamischen Charakter der sufischen Moralität zu bestimmen und zu denken? Inwiefern kann die Implementierung und Kultivierung der auf der spirituellen Läuterung und mystisch-ästhetischen Erfahrungen basierenden Ethos des Sufitums als Präventionsmittel gegen religiöse Radikalisierung fruchtbar machen? Und allgemein: Welche gesellschaftliche Relevanz weist die moralische und die ästhetische Dimension des Sufitum auf? Ferner, kann das Sufitum, als eine ausgeprägte Form der islamischen Spiritualität und Tätigkeitsphäre überhaupt für die aktuelle Krisen und Herausforderungen auf einer Makroebene effektiv agieren? Und schließlich: Was können wir von den gegenwärtigen Sufis in der flüchtigen Moderne überhaupt lernen?

        ____________________________________________________________________________

         Bibliografie:

           

            • Al-Daghistani, R., „Islamische Mystik: Sufismus als Weg, Wissen und Weisheit“; in: Mystik und mystische Spiritualität. Ein Dialog in den Weltreligionen. Hrsg. von A. Banerjee. Hamburg 2020, S. 57– 69.

            • Al-Daghistani, R., „Schrift, Schönheit, Spiritualität – Grundlinien einer mystischen Koranästhetik aus dem Geiste der Kalligraphie“; in: Religion und Ästhetik: Zur filmisch-seriellen Narration des Religiösen. Hrsg. von A. M. Karimi. Freiburg i. Br. 2021, S. 163–173.

            • Al-Daghistani, R., Die Epistemologie des Herzens. Erkenntnisaspekte der islamischen Mystik. Köln 2017.

            • Al-Ġazālī, A. Ḥ. M., Das Kriterium des Handelns. Darmstadt 2006.

            • Al-Ġazālī, A. Ḥ. M., Der Erretter aus dem Irrtum. Hamburg 1988.

            • Al-Kalābāḏī, A. B., Kitābat-Taʿarrufli-maḏhabahlat-taṣawwuf. Beirut 2001.

            • Al-Qušayrī, A. Q., Das Sendschreiben al-Qušayrīs über das Sufitum. Wiesbaden 1989.

            • Al-Qušayrī, A. Q., Die Responsensammlung über das Sufitum. Harrassowitz, Wiesbaden 2017.

            • As-Sarrāǧ, A. N., Schlaglichter über das Sufitum. Stuttgart 1990.

            • ʿAṭṭār, F. ad-D., Die Konferenz der Vögel. Wiesbaden 2008.

            • El-Maaroufi, A. und Al-Daghistani, R.„“Und jedes Tier kennt sein Preislied“ – Exegetische Debatten um nichtmenschliche Tiere und ihre Lobpreisungen in den mystischen Auslegungen von al-Qušayrī“. In: Klöcker/Tworuschka/Röttingen, Handbuch der Religionen, 78. 2023, IV – 1.12.

            • Geoffroy, É., Le Soufisme. Voie intérieure del‘ Islam. Paris 2009.

            • Gramlich, R., Islamische Mystik. Sufische Texte aus zehn Jahrhunderten. Stuttgart 1992.

            • Knysh, A., Islamic Mysticism. A Short History. Leiden 2000.

            • Schimmel, A., Rumi. Ich bin Wind und du bist Feuer. Leben und Werk des großen Mystikers. Düsseldorf 1978.

            • Schimmel, A., Sufismus. Kurze Einführung in die islamische Mystik. München 2014.


          09
          Juni
          Digitalisierung – Eine Herausforderung der Gesellschaft?

          Es ist draußen überall, aber auch bei uns zu Hause, bei der Oase der Ruhe und Gemütlichkeit angekommen. Es ist im Wohnzimmer, am Esstisch, in der Küche, im Schlafzimmer, mittlerweile in vielen Behörden, in Seminarräumen und auch im Klassenzimmer. Wir sind von der Digitalisierung umgeben. Unser Alter Ego ist nun nicht mehr unser Kindheitsfreund und auch kein langjähriger Freund, sondern unser Smartphone. Unsere Bankkarte ist unser Smartphone, unser Ausweis ist unser Smartphone. Reisen wir, so ist unser Smartphone unser Reiseführer. Wollen wir jemanden erreichen, erscheinen uns Brieftauben zwar immer noch äußerst verlockend, doch das Smartphone ist das bessere Kommunikationsmittel. Die heutigen Schüler lesen ihre Texte auf ihren iPads und machen ihre Hausaufgaben auf ihren Laptops. Fällt ein Seminar an der Uni aus, so finden die Studenten den Ersatz im Online-Ordner. Viele der modernen Menschen suchen online die große Liebe und trennen sich mit „Diesen Kontakt blockieren“. Kindheitserinnerungen begleiten uns nicht mehr in Papierform, sondern sind abgespeichert in digitalen Ordnern. Weiß das Smartphone nicht manchmal mehr, als wir über uns selbst wissen?

          Die Digitalisierung ist eine Herausforderung nicht nur hinsichtlich ihrer Umsetzung, sondern hinsichtlich ihrer Folgen. Die Erleichterung, die wir der Digitalisierung verdanken, darf uns nicht über ihr Janusgesicht hinwegtäuschen. Dass die Digitalisierung folgenreich ist und bewährte soziale Strukturen nicht nur verändern, sondern diese und die Gesellschaft insgesamt gefährden kann, erläuterte uns Byung-Chul Han. Im zweiten Tertial des Jahres 2022 haben wir im Lesezirkel zwei Werke des Philosophen Han und ein weiteres vom Physikprofessor Max Tegmark gelesen.

          „Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart. Was wird aus einer Gesellschaft, deren Rituale verschwinden – und mit ihnen das Verbindende?“ 1 war das erste Werk von Han, dem wir uns im Lesezirkel im April gewidmet haben. Han macht in seinem Werk deutlich, wie verloren der Einzelne in einer Gesellschaft zunehmender Individualisierung ist und warum wir dringend eine neue Lebensform brauchen. Dass Han mit seinem Basiliskenblick gesellschaftliche Probleme eruiert, sorgte im Lesezirkel für Begeisterung, doch diese wurde alsbald von Ernüchterung gedämpft. Han gebe keine zufriedenstellende Lösung für die von ihm festgestellten Probleme.

          “Wie stellt sich Han die Lösung genau vor? Es ist typisch für Philosophen, dass sie die Lösungen in Ansätzen anreißen, aber keine Beispiele dafür geben. Werden alte Rituale in den Alltag implementiert oder sind es neue Formen, die sich etablieren müssen? Als Leser bin ich hier auf mich allein gestellt.” 2

          Begeistert von Hans erster Analyse, wagten wir im Mai im Lesezirkel einen weiteren Schritt in Hans Gedankenwelt mit dem Ziel, die bereits behandelte Demokratiekrise aus der Perspektive des digitalen Fortschritts zu betrachten. Hans desillusionierter Blick auf die Digitalisierung, seine Warnung vor deren Gefahren und seine Diagnose, die Demokratie entarte zur Infokratie, waren die Quintessenz seines Werks „Infokratie. Digitalisierung die Krise der Demokratie.“ 3 In seinem Buch zeichnet er nämlich, äußerst pessimistisch, ein Bild vom heutigen „Informationsregime“, in dem nur derjenige, der über Informationen verfügt, die Macht innehat. Dabei spricht Han von Informationskriegen, denen sachliche Debatten weichen, und warnt uns davor. Beinahe verdammt er die neue Entwicklung.

          Da wir im Lesezirkel auch mal kritische Analysen einer kritischen Betrachtung unterziehen und bestrebt sind, auch die positiven Seiten einer (Informations-)Krise zu erkennen, äußersten einige unserer Teilnehmer Einwände gegen Hans Sichtweise. „Wir kennen von den muslimischen Grundprinzipien her den Satz: Al-aslu fî-l-aschyâ‘ al-ibâha. Sinngemäß heißt das, dass alle Dinge in ihrer Grundform gewährt sind. Meines Erachtens gilt das auch für Informationen. Abgesehen von der Tatsache, dass Han in einem anderen Werk vom Smartphone als Unding spricht, wird es unwillkürlich darin münden, dass Muslime über den Umgang mit ihr neu denken müssen. Es gibt viele undefinierte Bereiche für uns und dennoch sehe ich in dem technologischen Fortschritt eine große Chance.“ 4

          Im unmittelbaren Zusammenhang mit der Digitalisierung steht auch die Frage nach der Künstlichen Intelligenz. In seinem Werk „Leben 3.0. Mensch sein Im Zeitalter Künstlicher Intelligenz“ 5 hat Max Tegmark Fragen wie: Künstliche Intelligenz wird die Zukunft des Lebens in unserem Universum verändern. Wird sie uns ins Verderben stürzen oder zur Weiterentwicklung des Homo Sapiens beitragen?, tief durchdrungen. Mit seinem Buch als Grundlage haben wir im Juni unser Treffen gestaltet, um das Tertial damit abzuschließen. Viele der von ihm Tegmark aufgeworfenen Fragen machten uns zweifellos nachdenklich. Im Lesezirkel konnte man sich dennoch des Eindrucks nicht erwehren, dass einige Teilnehmer Anstoß daran nehmen, dass sowohl die Beschäftigung mit Digitalisierung als auch mit Künstlicher Intelligenz einer wichtigen Komponente ermangelt, nämlich der religiösen. Oft wird der Mensch in einschlägigen Analysen nahezu als Objekt der Digitalisierung dargestellt, das nach einem dystopischen Szenario der QI unterlegen wäre. Ist die differentia specifica des Menschen aber nicht, dass er fähig ist, Gott zu erkennen? Bereits im Mittelalter haben Imam al-Ghazālī in seinem „Der Erretter aus dem Irrtum“, Ibn Tufail in „Der Philosoph als Autodidakt“ sowie Descartes in seinen Meditationen die Fähigkeit des Menschen aufgezeigt, Gott zu erkennen. Unser Lesezirkel weicht von dieser Tradition nicht ab und wiederholte sie mit Entschiedenheit. „Was macht den Menschen aus? Ist unser wichtigstes Unterscheidungsmerkmal ,wie Tegmark sich fragt, das Bewusstsein? Für mich ist der entscheidende Differenzierungsaspekt die Fähigkeit an Gott zu glauben bzw. den Glauben an Ihn zu finden. Könnte eine künstliche Intelligenz, die über ein sehr ausgeprägtes Bewusstsein verfügt, auch zur Gotteserkenntnis gelangen?“ 6

          1)
          2) Beitrag aus dem Lesezirkel. April 2022.
          3) Han, Byung-Chul (2021):Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie. 1.Aufl. Berlin: Matthes & Seitz Berlin.
          4) Beitrag aus dem Lesezirkel. Mai 2022.
          5) Tegmark, Max (2019): Leben 3.0. MenscTegmark, Max (2019): Leben 3.0. Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz. 2.Aufl. Berlin: Ullsteinh sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz. 2.Aufl. Berlin: Ullstein.
          6) Beitrag aus dem Lesezirkel. Juni 2022.

          08
          Juni
          Die Krise im Dauerzustand. Was hält unsere Demokratie aus?

          Besingen manche den Fortschritt der Demokratie, so beklagen andere den pathologischen Zustand, in dem sich die Demokratie heute befindet. Im Februar 2022 richteten wir den Blick im Lesezirkel auf die Demokratie nicht als statisches Konstrukt, sondern als eine angesichts gesellschaftlicher Veränderung dem Wandel unterworfene und von Krisen umgebene Ordnung. Das Essay „Neue Krisen. Wissenschaft, Moralisierung und die Demokratie im 21. Jahrhundert“ 1 von Wolfgang Merkel bot uns eine erste Grundlage, auf der wir uns im Lesezirkel bewegen konnten.

          Merkel geht von der Genese „Neuer Krisen“ aus. Angestoßen sei diese Genese durch das Zusammenspiel dreier externer Faktoren: Migrationskrise, Klimakrise und Covid-19-Pandemie. Dabei seien neue Eigenschaften aufgrund des Fehlens von demokratieangemessenen (hier fehlt was) auf die gegenwärtigen Herausforderungen entstanden: Szientifizierung, Moralisierung und Polarisierung. Hinsichtlich der Problemlösung moderner Krisen wie etwa der Klimakrise, bestehe nämlich, so Merkel, zunehmend die Notwendigkeit einer wissenschaftlich-evidenzbasierten Beratung der Politik. Dies werde nun aber behindert und führe somit zu einem neuartigen Problem. „Gerade dort bedarf die Politik eines besonders breiten und pluralistischen Zugangs von Wissenschaftlern und Wissenschaftsdisziplinen. Wird dieser Zugang aus politischen Gründen strategisch verengt, führt die Verwissenschaftlichung der Politik zur Politisierung der Wissenschaft.“2

          Im Rahmen einer regen Diskussion über Merkels Position und die unverzichtbar gewordene Rolle der Wissenschaft im heutigen politischen Prozess, konnten wir im Lesezirkel einen anderen Wandel konstatieren. Nicht nur die Demokratie verändert sich, sondern auch die Art, Politik zu machen, War früher Religion oder Ideologie eine sinnstiftende, politische Legitimationsgrundlage, so werden diese heute durch Wissenschaft abgelöst. „Die Art, wie man Politik macht, hat sich verändert. Die Rückbesinnung auf die Wissenschaft als politische Legitimationsgrundlage ist kein neues Phänomen. Früher hatten diese Funktionen beispielsweise Religionen oder Ideologien inne. In diesem Fall ist Wissenschaft komplementär ersetzbar.“ 3

          Die im politischen Prozess unverzichtbar gewordene, als politische Legitimationsgrundlage fungierende Wissenschaft wurde bei unserem zweiten Treffen im März zum Gegenstand der Betrachtung erhoben. Mithin wurden die Erkenntnisse der ersten Diskussion bei einem zweiten Treffen unseres Lesezirkels vertieft, bei dem die Rolle der Wissenschaft im politischen Prozess kritisch beleuchtet wurde. „Epistemisierung der Politischen“ 4 lautet der Titel von Bogners Buch, das als zweite Grundlage in diesem Tertial diente. Bogner geht davon aus, dass bei politischen Streitfragen heute immer weniger die normativen Aspekte und individuellen Handlungsoptionen im Mittelpunkt stünden. Heute gehe es vielmehr um Wissensfragen und die überlegenen Erkenntnisse. Bogner untersucht in seinem Buch ebendiese Epistemisierung des Politischen und hält ihre Gefahr für die Demokratie fest.

          Spätestens seit der Corona-Pandemie weiß nicht nur unser Lesezirkel, welche Rolle, Reich- und Tragweite die Aussagen von Experten zu einer unseligen Pandemie haben können. Angeregt von Bogners Überlegungen wurde die Rolle der Wissenschaft im politischen Prozess erörtert. War die Covid-19-Pandemie eine Blaupause für eine neue Herrschaftsform, die Herrschaft der Wissenschaft? Erodiert die Demokratie dadurch? Werden unsere allseits bekannten demokratischen Rechte dadurch beschnitten? Diese und andere Fragen und Beiträge bildeten das Fundament unserer an Bogners orientierten Erörterung.

          Eindrücke aus dem Lesezirkel: „An sich finde ich die Fragestellung bzgl. des Expertenrates sehr anregend. Nichtsdestotrotz finde ich die Diskussion hierbei sehr akademisch und nicht zielführend. Wenn man sich die gegenwärtige politische Realität ansieht, stellt man fest, dass solche Verfassungen wie der Expertenrat nicht funktionieren. Im Iran beispielsweise handeln die sogenannten Experten, welche nach den im Buch genannten Qualitätskriterien ausgewählt werden, m.E. nicht unbedingt wissensgerecht und ehrenvoll. Die Einführung eines Expertenrates wäre aus meiner Perspektive nicht realitätsnahe und auch keine gute Alternative zu unserem jetzigen demokratischen System.“ 5

           u
          1) Merkel, Wolfgang: Neue Krisen. Wissenschaft, Moralisierung und die Demokratie im 21. Jahrhundert. Unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/zustand-der-demokratie-2021/335433/neue-krisen/ [letzter Zugriff 28.05.2023]
          2) EBD.
          3) Beitrag aus dem Lesezirkel. Februar 2022.
          4) Bogner, Alexander (2021): Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet.1.Aufl.Ditzingen: Reclam.
          5) Beitrag aus dem Lesezirkels. März 2022.



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