von Dr. Muhammad Sameer Murtaza
Das Tragen eines Kreuzes diskriminiert niemanden, das Tragen eines Kopftuchs schon. (…) Wenn jemand das Kreuz anzieht, ist er trotzdem ein Teil der Gemeinschaft. (Susanne Schröter)¹
Wir können die [Migranten] nachher immer noch alle erschießen. Das ist überhaupt kein Thema. Oder vergasen, oder wie du willst. Mir egal! (Christian Lüth)²
Es ist sicherlich keine Übertreibung zu schreiben, dass in den vergangenen 30 Jahren der interreligiöse Dialog als Allheilmittel zur Beilegung gesellschaftlicher Konflikte in religionspluralen Gesellschaften angepriesen wurde. Doch nach Jahrzehnten unzähliger Dialoginitiativen und -projekte sowie der Erzeugung einer Dialogindustrie um den Dialogwillen wachen wir in einer Welt auf, in der eben nicht die Dialogbefürworter und Dialogwortführer, die Konfliktvermeider und Konsensfürsprecher die Macher und Gestalter dieser Welt sind, sondern jene, die provozieren, die die Auseinandersetzung suchen, tatkräftig entscheiden und sich mit einer Ellbogenmentalität durchsetzen. Gerade Muslime reiben sich verwundert die Augen, da sie trotz all ihrer Dialogbemühungen die Erfahrung von Muslimfeindlichkeit machen, sowohl individuell als auch strukturell. Woran liegt das? Braucht es noch mehr Dialog?
Die Brücke wurde zur Metapher des Dialogs zwischen den Religionen. Übersehen wurde jedoch, dass ein solcher Brückenschlag am Ende etwas erfordert, das keine Seite zu vollbringen vermag: ein Übersetzen auf die andere Seite. Die zweipolige Metapher lässt allenfalls eine Begegnung in der Mitte über dem Abgrund des Misstrauens und des Missverstehens zu, doch am Ende kehrt jeder zu seinem Ursprung zurück. Und was geschieht mit der Welt?
Im Laufe der Zeit entstehen an Brücken Mängel und Schäden, sodass sie saniert werden müssen. Das verschlingt auf beiden Seiten Kapazitäten und die wertvolle Ressource Zeit bis schließlich jener Tag kommt, an dem jegliche Sanierungsarbeiten mehr Aufwand als Nutzen bedeuten. Die Folge: Die Brücke wird eingerissen.
Brücken bieten langfristig nicht genug Standfestigkeit für die dynamischen und turbulenten Prozesse, denen sie ausgesetzt werden. Daher ein Alternativvorschlag: Hinabsteigen in den Abgrund mit offenem Ausgang. Dort unten im Chaos von Idealen und pervertierten Idealen, von humanen und inhumanen Normen, von Vertrautheit und Fremdheit, Deckungsgleichheit und unüberbrückbaren Differenzen, Vielsprachigkeit und Spannungsfeldern, Verstehen und Nichtverstehen, Ungleichzeitigkeit und Transfer, Identität und Universalität, Selbstbild und Widersprüchlichkeit, Aushandlung und Macht können gemeinsame Kontaktzonen ausgelotet werden, die einen Weg in ein unentdecktes Land ebnen: die gemeinsame Zukunft.³ Doch was bedeutet dies nun genau? Wie sollte ein fruchtbarer Dialog der Theorie nach gestalten sein?
Der Dialog in der Theorie
Der Freund des Gespräches aber ist der Freund des Friedens, der nur auf dem Gespräch der Menschen miteinander ruhe kann. (Richard von Weizsäcker)⁴
Dialogfähigkeit ist im letzten eine Tugend der Friedensfähigkeit. (…) Wo Dialoge abgebrochen wurden, brachen Kriege aus, im Privaten wie im Öffentlichen. Wo das Gespräch scheiterte, setzten die Repressionen ein, regierte das Faustrecht des Mächtigeren, Überlegeneren, Cleveren. Wer Dialog führt, schießt nicht. (Hans Küng)⁵
Kein Mensch ist eine Insel. Wir sind eingebettet in unsere Familien, Freundeskreise und oftmals auch in eine Religionsgemeinschaft. Bei Letzterer handelt es sich um einen Zusammenschluss von Menschen, die in ihrer Weltanschauung, ihren Werten und Normen einen hohen Grad an Übereinstimmung aufweisen, wodurch ein ganz besonderes und intimes Gefühl von Nähe und Verbundenheit zwischen ihnen besteht. Im modernen Nationalstaat sind oftmals die Gemeinschaften, neben anderen, zu Teilsegmenten geworden. Gemeinsam ergeben sie die Gesellschaft. Die plurale Gesellschaft ist ein Zweckbündnis, um ein sicheres Zusammenleben in einem größeren Verbund zu ermöglichen, sie kann jedoch aufgrund dieser Pluralität keine ausreichende sinnstiftende Weltanschauung anbieten, die zugleich eine tief reichende Solidarität schafft. Von vornherein gibt es zwischen den Individuen eine größere Distanz. Staatsbürgerliche Feste wie Nationalfeiertage, eine nationale Erzählung, Nationalflagge und -hymne, nationale Helden sowie die Sprache stiften ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. Aber für die meisten Bürger eines Landes dürfte es doch der Genuss an Freiheiten und Rechten sowie wirtschaftlichen Aufstiegschancen sein, also das gute Leben, das Menschen einen Ort als Heimat empfinden lässt. Der Einzelne ist bedeutsamer, als er es in der Gemeinschaft ist. Diese gesellschaftliche Pluralität, die mit dem Voranschreiten der Zeit nicht kleiner, sondern aufgrund von Ausdifferenziertheit größer wird, macht den Dialog notwendig. Dialog, das ist ein Gespräch zwischen zwei oder mehreren Personen, bestehend aus Rede und Zuhören sowie Gegenrede und Zuhören. Aber worin besteht das angestrebte Ziel der Dialogparteien? Was soll am Ende erreicht werden und woran erkennt man dies? Was sollen die Dialogpartner im Anschluss wissen und tun?
Ist Dialog ein Überzeugungsgespräch, bei dem das Gegenüber von der eigenen Weltanschauung überzeugt werden soll? In diesem Fall spricht sich von vornherein eine Seite eine höherwertige Position zu. Handelt es sich beim Dialog um ein Streitgespräch, wo es im Grunde darum geht, das Publikum zu umwerben? Unter diesen Umständen ist der Dialog eine Wettbewerbsveranstaltung um Anhängerschaft und Unterstützung. Oder ist Dialog ein
Lösungsgespräch, bei dem sich unterschiedliche Parteien auf Augenhöhe begegnen und einander kennenlernen, um gemeinsam durch These und Antithese eine Lösung für ein Problem zu finden? Die meisten Gespräche sind unfruchtbar, da zuvor die Zielsetzung nicht erörtert wurde sowie die Kontrolle fehlt, ob man weiterhin dieses Ziel verfolgt.
Dialog macht man nicht einfach. Das Führen eines fruchtbaren Gesprächs will erlernt sein. Es braucht ein Verständnis bezüglich der Institution Dialog. Die Institution Dialog muss ein machtneutralisierter und herrschaftsemanzipierter Raum sein, in dem es in Diskussionen allein auf die Autorität des Argumentes ankommt. Die Macht des Staates, die Interessen der Wirtschaft und das Popularitätsversprechen der Massen und Medien müssen hier suspendiert sein. Der Dialog wird somit zu einem Forum, in dem in Freiheit diskutiert wird. Jedes Gesellschaftsmitglied kann am Dialog partizipieren, es muss aber anerkennen, dass seine Wahrheit in jenem Moment, in dem es sie in die Öffentlichkeit der Gesellschaft trägt, zu einer Meinung unter Meinungen wird, die evaluiert werden muss. Das heißt, wir äußern unsere Meinung in einem Gespräch, die auch als Diskursmeinung anerkannt werden muss. Wir formulieren Gegenargumente, die auch ernst genommen werden müssen. Es ist eine Auseinandersetzung unter Gleichen. Die Gesellschaft selbst ist ein Raum der Meinungsvielfalt, der diesen Rahmen voraussetzt.
Die selbstevidente Macht des besseren Argumentes nimmt dann innerhalb der Gesellschaft die Funktion ein, auf der einen Seite Kontinuität zu gewährleisten, aber auf der anderen Seite auch Veränderungen zu bewirken, sofern ihre Mitglieder offen für Veränderungen durch Kommunikation sind.
Das begründete Argument erzeugt in der Gesellschaft legitime Macht, die auf die Gesellschaft einwirkt. Neue Entwicklungen werden dann nicht via Befehl, sondern durch Dialog und Überzeugung von den Gesellschaftsmitgliedern angenommen. Sie gelten auch nicht als absolute Wahrheiten, sondern als das, was diese Gesellschaft nach einem wahrhaftigen Reflexionsprozess als augenblicklich richtig versteht.
Die kommunikative Macht kann somit die Gesellschaft in eine bestimmte Richtung lenken, sofern die Gesellschaftsmitglieder das Argument annehmen. Auf diese Weise finden sie zu einem neuen Konsens und es bildet sich eine neue Mitte.
Hierüber darf aber nicht vergessen werden, Dialoge verlaufen nicht nach dem „Entweder-oder-Prinzip“, sondern oftmals können mehrere Argumente und Beschlüsse nebeneinander bestehen bleiben und sei es nur in Form einer legitimen Mehrheits- und einer legitimen Minderheitenmeinung. Der Versuch, einem Gespräch das Prinzip „Entweder so wie ich es sehe oder gar nicht“ überzuwerfen, macht jeden Dialog sinnlos. Ein solcher Diskutant geht davon aus, dass nur seine Anschauung und sein Wille zählen. Damit erhebt er sich über die anderen Diskutanten und ein Gespräch unter Gleichen ist nicht mehr möglich. Die Verabsolutierung der eigenen Position macht es einem Diskutanten unmöglich, zu differenzieren und zu unterscheiden.
Um nicht in eine solche Situation zu geraten, muss für alle in der Gesellschaft gelten: Mäßigung der eigenen Ansprüche, ohne sie durchzustreichen. Konkret bedeutet dies zu akzeptieren, dass man selbst im Unrecht und der andere im Recht sein kann oder dass man selbst im Recht ist, aber es weitere Positionen gibt, die ebenso im Recht sind. Nur so bleibt man offen für andere Sichtweisen und für die eigene Offenheit.
Dialog ist nur dann ein Mittel, um Spannungen und Fremdheit ab- und Kooperation und Vertrauen aufzubauen, Sprachlosigkeit zu überwinden und Kommunikation zu fördern, wenn es eine Gesprächskultur gibt. Damit der interreligiöse Dialog gelingen kann, sollten – in
Anlehnung an Leonard Swidler und den Leitfaden für den interreligiösen Dialog des Interreligiösen Think-Tank⁶ – folgende Punkte berücksichtigt werden:
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- Wenn die Gesprächspartner nicht ein Mindestmaß an Wirklichkeitsverständnis und Mitmenschlichkeit miteinander teilen, erübrigt sich jegliches Gespräch. Mit menschenverachtenden Extremisten politischer oder religiöser Couleur, Rassisten und Verschwörungstheoretikern sowie notorischen Lügnern ist kein sinnvolles Gespräch möglich.
- Das Gespräch darf nicht mit westlicher Zivilisierungsmission, christlicher Mission oder islamischer daʿwa (Einladung zum Islam) verwechselt werden. Ziel ist es nicht, den anderen zu bekehren oder zu bevormunden, sondern zu einer gemeinsamen Kooperationsgrundlage zu gelangen.
- Der Gesprächspartner ist nicht Abziehbild „der“ anderen Religion, sondern mitgeprägt durch Faktoren wie Kultur, ökonomische Verhältnisse, Klassen-, Schicht- und Geschlechtszugehörigkeit, Mehrheits- und Minderheitenstatus. Im interreligiösen Dialog tritt lediglich die religiöse Identifizierung aufgrund der Dialogsituation stärker in den Vordergrund. Der Gesprächspartner darf aber nicht auf seine religiöse Zugehörigkeit reduziert werden. Andernfalls führt dies zu einer Verzerrung der involvierten Personen wie auch der Religion.
- Jeder Gesprächspartner kann zwar von der eigenen religiösen Einzigartigkeit überzeugt sein, dies kann aber nicht mit einem Universalitätsanspruch gegenüber dem anderen einhergehen. Jede Seite muss die Stärke aufbringen, den Einzigartigkeitsanspruch des anderen auszuhalten und zu respektieren, auch wenn man diese Ansicht nicht teilt.
- Unabdingbar für das Gespräch ist die Bereitschaft hinzuhören, denn wo der übergriffige Anspruch erhoben wird, dass man den anderen besser versteht als er sich selbst, werden Monologe, aber keine Dialoge geführt. Im Gespräch geht es um das Verstehen, wie mein Gegenüber auf die Fraglichkeit der Welt reagierte und auf welchen Überzeugungen seine Anschauung der Welt beruht. So kann nur ein Christ das Christsein oder sein Verständnis der Dreifaltigkeitslehre aus der Innenperspektive erläutern. Andersgläubige können lediglich beschreiben, welchen Eindruck Aspekte der christlichen Religion bei ihnen, aus der Außenperspektive betrachtet, hinterlassen.
Damit verbunden muss die Bereitschaft vorhanden sein, statische Vorverständnisse der jeweils anderen Religion aufzugeben und zu hinterfragen. - Um die Glaubenswelt und -praxis des anderen verstehen zu können, sind Empathie sowie die Bereitschaft nötig, geistig einige Kilometer in den Mokassins des anderen zu gehen. Wenig hilfreich ist es, das eigene Religionsverständnis auf den anderen zu übertragen und damit der eigenen Religion und ihrer Entwicklung Universalität zuzuschreiben und sie so zum Maßstab zu erheben (z. B. „Der Islam braucht eine Reformation wie das Christentum“).
- Ein Gespräch gründet auf Vertrauen, d. h. der Selbstverständlichkeit der Wahrhaftigkeit: Beide Seiten müssen sich ehrlich und aufrichtig begegnen und diese Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit beim anderen voraussetzen. Der taqīya-Vorwurf, den Muslime in der westlichen Hemisphäre des Öfteren ausgesetzt sind, verunmöglicht den Dialog.
- Da ein Gespräch auf Vertrauen basieren soll, ein solches aber erst wachsen muss, sollten in der Anfangszeit Themen behandelt werden, die auf die Gemeinsamkeiten hinweisen und Perspektiven für eine Zusammenarbeit bieten.
- Erst durch Vertrauen verdient sich jede Seite das Recht, im Namen des Vertrauens und des Respekts alle Fragen stellen zu dürfen, auch jene, die wehtun.
- Im Gespräch müssen beide Seiten zwischen der Religion und dem religiösen Wissen unterscheiden, denn Religion unterliegt menschlichen Interpretationen, die stets begrenzt, endlich, wandelbar und auch fehlerhaft sein können. Daher sollte man davon Abstand nehmen, zu verallgemeinern. Weder gibt es „das“ Judentum noch „das“ Christentum und auch nicht „den“ Islam. Religionen sind keine Monolithe. Sie integrieren sich in unterschiedliche Kulturen, wodurch sie in sekundären und tertiären Dingen deren Ausdrucksformen annehmen.
Religionen sind Mosaike. Diese Mosaike haben in Form von Konfessionen, Lehrschulen, Gelehrtenstand und Strömungen auch jeweils eigene Interessen und buhlen um Partizipation in ihren Gesellschaften, was Verschmelzungstendenzen und Synchronisationsprozesse von Religion in Bezug auf das bestehende politische Regime, quer durch die Menschheitsgeschichte, erklärt. Unredlich ist es, wenn Westeuropäer ihre augenblickliche Realisierung des Christentums als universell postulieren unter Ausblendung anderer, repressiver Formen von Christentum wie z. B. auf dem afrikanischen Kontinent, während muslimische Europäer sich für Ausdrucksformen des Islam in Afghanistan oder Saudi-Arabien rechtfertigen sollen. Aufgrund des Pluralismus in der Welt kann nur Lokales mit Lokalem verglichen werden. Wenn Muslime hierzulande Stellung nehmen sollen zu Terrororganisationen wie Boko Haram, dann sollte auch das christliche Pendant Lord’s Resistance Army in den Blick genommen werden. Gerade der Vergleich und die Feststellung, dass beide Terrororganisationen sich ähnlicher Mittel bedienen, kann erkenntnisgewinnender sein, als eine kulturell ganz anders beheimatete Religionsgemeinschaft an den Pranger zu stellen.
Daher sollten die eigenen Ideale (z. B. Friedensbotschaft) nicht mit der Praxis (z. B. Gewaltpotenzial) des anderen verglichen werden, sondern die eigenen Ideale mit den Idealen des anderen und die eigene Praxis mit der Praxis des anderen.
Hinsichtlich der geschichtlichen Verwirklichung der Religion muss jeder Teilnehmer im Gespräch die Fähigkeit zur Selbstkritik und die Fähigkeit, Kritik auszuhalten, besitzen. - Ein Gespräch sollte frei von Ihr-Vorwürfen, Ärger, Forderungen und destruktiver Kritik sein, denn all dies löst beim Gegenüber ebenso Ärger, das Einnehmen einer Verteidigungsposition und das Aufstellen eigener Forderungen aus.
- Statt Ihr-Anklagen zu äußern, bleibt jeder Gesprächspartner bei Kritik bei sich, indem man berichtet, wie dieses oder jenes auf einen wirkt.
- Im Gespräch müssen unterschiedliche Diskursebenen und ihre jeweiligen Rahmen eingehalten werden. Auf der politischen Diskursebene gehört es sich nicht, dass Gläubigen durch Politiker ihr Religionsverständnis abgestritten wird oder sie sich mit Bezug auf ihre Glaubensquelle rechtfertigen müssen. In der politischen Auseinandersetzung im säkularen Staat ist die Glaubensquelle, anders als im interreligiösen Dialog, keine Quelle für den Bürgerdiskurs, sondern die Verfassung. Gläubige müssen auf der Bürgerebene daher ihre Praxis nicht religiös erklären, sondern sollten als Bürger auftreten, indem sie auf die Freiheiten, die ihnen die Verfassung gewährt, verweisen.
- Wo der Gesprächspartner sich wiederholend nicht an diese Spielregeln des Dialogs hält, sollte der Mut aufgebracht werden, Gespräche freundlich und souverän zu beenden.
- Die Ergebnisse des Gespräches müssen in die eigene Religionsgemeinschaft transportiert werden, damit sich bei den eigenen Glaubensgeschwistern ein Erkenntnisgewinn einstellt. Auf diese Weise lernt eine ganze Gemeinschaft.
So entstehen unter der Brücke lokal Kontaktzonen, Spannungsfelder und Lerngemeinschaften zwischen den Gemeinschaften einer Gesellschaft und global zwischen den Gesellschaften der Weltgesellschaft, die mehrpolig und reziprok sind. Unter der Brücke lernen wir uns tatsächlich kennen, mit all unseren Ecken und Kanten, und verhandeln von unseren unterschiedlichen Standpunkten unsere ethische Schnittmenge aus. Auf diese Weise können wir unser gemeinsames Handeln in dieser fragil gewordenen Welt abstimmen, um den unvermeidbaren Herausforderungen, die auf uns warten, zu begegnen.⁷ Doch gestaltet sich der Dialog in der Praxis so, wie die Theorie verspricht?
Der Dialog in der Praxis
Man kann nicht 100-prozentig Moslem und 100-prozentig Deutscher sein. (Hamed Abdel-Samad)⁸
Der politische Islam richtet sich gegen uns alle und ist viel gefährlicher als der Jihadismus und Salafismus, weil er viel subtiler, nämlich in Krawatte und Anzug, auftritt. Das durchschauen viele Politiker noch nicht, mit denen ich rede. (Mouhanad Khorchide)⁹
Alle Beziehungen eines Menschen zu anderen (Gott, Eltern, Ehepartner, Kinder, Arbeitskollegen usw.) sind immer geprägt vom Machtpotenzial. Der Dialog ist demnach ebenso vorherrschenden Machtstrukturen ausgesetzt.
Das Wort Macht drückt nichts anderes aus, als das eigene Potenzial auszuschöpfen, gestalterisch in der Welt tätig zu sein, um sich hierdurch selbst zu erfahren, selbst zu bestätigen und selbst zu verwirklichen. Nach dem Philosophen Muhammad Iqbal ist man, solange man handelt.¹⁰ Macht ist ein Streben des Über-sich-selbst-hinaus-gehens, wodurch der Mensch sein eigenes Selbst vergrößert. Diese Vergrößerung stellt zugleich eine Erfahrung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen dar und ist somit zugleich ein bei sich selbst sein. Je mehr Macht ein Individuum besitzt, desto souveräner und unabhängiger ist es. Macht besitzt folglich ein Emanzipationspotenzial, das unterdrückerische Strukturen aufzubrechen vermag und aus asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnissen befreien kann.¹¹
In der Schöpfung wirkt der Wille zur Macht eines Individuums auf den Willen zur Macht anderer Individuen und prägt somit unsere Verhältnisse zueinander. Der Wille als Kraft ist Streben, Ringen, Durchsetzen wie auch Beherrschung, da sich der Wille eines Menschen an einem anderen vollzieht, indem dessen Wille zur Macht überwunden wird. Folglich lässt sich in allen unseren Beziehungen, in verschiedenen Rollen und in unterschiedlichem Ausmaß zwischen dominanten und subdominanten Personen unterscheiden, was die Etablierung dominanter-subdominanter Herrschaftsstrukturen nach sich zieht.
Dieses Machtstreben ist in seiner rohen und primitiven Form die blanke Lust des Menschen, über andere zu herrschen. Das ist Macht in ihrer destruktiven Form, die freiheitsmindernd, gar freiheitszerstörend wirkt.¹² In einer religiös-ethisch kultivierten Form, gepaart mit Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, wird Macht auch Nächstenliebe genannt. Nächstenliebe ist eine konstruktive Macht. Sie ist transformativ, denn sie nimmt Anstoß an den Ungerechtigkeiten in der Welt, die dazu führen, dass Menschen am Wegesrand zurückgelassen werden, und verändert sie. In diesem Sinne schrieb Martin Luther King: „Eines der größten Probleme der Geschichte ist es, dass die Begriffe Liebe und Macht gewöhnlich als polare Gegensätze gegenübergestellt werden. Liebe wird mit dem Verzicht auf Macht und Macht mit der Verneinung der Liebe identifiziert. (…) Macht im besten Sinne ist Liebe, die die Forderungen der Gerechtigkeit erfüllt. Gerechtigkeit im besten Sinne ist Liebe, die alles verändert, was sich der Liebe entgegenstellt.“¹³ Nächstenliebe ist eine freiheitsfördernde Macht, die Augenhöhe zwischen den Menschen herstellen will, die Pluralität in der Gestalt verschiedener Standpunkte sichtbar macht und einen Konsens ohne die Unterdrückung von Meinungen herbeiführen will.¹⁴
Da der Dialog ebenfalls einem Machtaspekt unterliegt, werden die hehren Absichten der Theorie unterlaufen. Auch im säkularen religionsneutralen Staat wird dieser von der Mehrheitsbevölkerung und den Volksvertretern, wenn auch nur kulturell, mit der Mehrheitsreligion assoziiert. Hierdurch hat Letztere mehr Einfluss, Verflechtungen, Ressourcen und Kapazitäten, also Macht, als Vertreter einer Minderheitenreligion. Der Dialog ist von vornherein einer Asymmetrie bzw. einem Machtungleichgewicht ausgesetzt.
Zugleich sind alle Religionsgemeinschaften im Staat, selbst im neutralen säkularen Staat, dem Machtwillen von Politikern und der Religionspolitik von Parteien ausgesetzt. „Die Religion kann politisch vereinnahmt oder ausgegrenzt, gefördert oder ignoriert, instrumentalisiert oder unterdrückt werden. Der säkulare Staat hat viele religionspolitische Optionen. Entsprechend vielfältig sind die Reaktionsmuster der Religionen, die abhängig sind von der Bestimmtheit der religiösen Quellen und der Tradition“¹⁵ , erklärt der Theologe Arnulf von Scheliha.
Unter diesen Gesichtspunkten begegnen sich die Religionsgemeinschaften im Dialog nicht auf Augenhöhe. Die Minderheitenreligion sieht sich mit einem professionalisierten Apparat, entweder dem Staat oder der Mehrheitsreligion, konfrontiert, der die Themen setzt und die Dialogpartner auswählt. Die Themen orientieren sich dabei an den Interessen der Mehrheitsgesellschaft und die Auswahl der Gesprächspartner ist plakativ (gut/böse, freiheitlich/fundamentalistisch, liberal/konservativ), um der Mehrheitsgesellschaft ein einfaches Denken in Schubladen zu ermöglichen. Dieses Dominanzverhalten ist, geprägt durch die Einbettung in die Landeskultur, Ausdruck einer psychologischen Selbstverständlichkeit. Oftmals geht es im Dialog gar nicht um das Verstehen der Religion der Minderheit, sondern um ein Abarbeiten von medial vermittelnden Konflikten mit dieser.¹⁶
Die Reaktion der Vertreter der Minderheitenreligion ist oftmals das Einnehmen einer subdominanten Position, indem man sich dem Diskursdiktat fügt, sich erklärt, rechtfertigt oder beklagt, durch Medien und Mehrheitsbevölkerung nicht so dargestellt zu werden, wie man sich selbst versteht.
In der beobachteten Dialogpraxis kommt es selten zu einem Angleichungsprozess. Anfänglich werden die geäußerte Schwäche, das Selbstmitleid und die Unterwürfigkeit mit Empathie und Anteilnahme bedacht. Doch in allen Lebensbereichen, bis hin zum Verständnis von Gott, zeigt sich immer wieder: Stärke wird respektiert, wertgeschätzt und bewundert. Das Mitempfinden und die Sympathie für den Schwachen können dagegen nach einiger Zeit umschlagen in ein Genervtsein, in Verachtung und letztendlich in Aggressivität. Dieser asymmetrische Dialog lässt Ressentiments gegenüber der Minderheit eher wachsen.¹⁷
Da diskutiert, argumentiert, analysiert, kalkuliert, debattiert, polemisiert, impliziert und suggeriert die Minderheit, aber das Machtungleichgewicht verschärft sich weiter und das Bemühen, den anderen zu verstehen, nimmt ab. Wieso verfehlt der Dialog hier sein Ziel? Weshalb kommt es nicht zu einem Verstehen, zu Ausgleich und einem Angleichungsprozess bzgl. der Macht? Warum bleibt die Position der Minderheitenreligion weiterhin subdominant, die kaum Möglichkeiten gewährt, in den Medien und Institutionen der Mehrheitsbevölkerung eigene Diskursschwerpunkte zu setzen? Weil dies bedeuten würde, dass die dominante Position Macht abgibt, was mit dem Willen zur Macht kollidiert. Niemand gibt gerne und freiwillig Macht ab. Das Verstehen reicht nur so weit, wie es den Status quo der Mehrheit nicht gefährdet. Aber beansprucht die Minderheit durch den Dialog Dinge, die sie mit der Mehrheitsreligion gleichsetzt, wird die Minderheit geahndet, eine Parallelgesellschaft errichten zu wollen oder ihre Religion zu politisieren.
Flankiert wird dieses Unterfangen durch soziale Aufsteiger aus der Minderheit („Man muss begründete Ängste der Mehrheit ernst nehmen“), deren Karrieren in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Mehrheitsgesellschaft stehen. Die Intention dieser Aufsteiger kann unterschiedlich gelagert sein, aber als Verfechter des Status quo sind sie sozialpolitisch als konservativ einzuordnen, auch wenn die Mehrheit sie als progressiv plakatiert. In ihrer Kritik an den Bestrebungen der Minderheit erweisen sie sich buchstäblich als loyal gegenüber der Mehrheit und nehmen diese vor jeglichen Ungerechtigkeits- oder Rassismusvorwürfen in Schutz. Auf diese Weise werden sie Teil der bestehenden dominanten-subdominanten Herrschaftsstrukturen. Diese „loyalen“ Vertreter aus der Minderheit schmücken sich zwar mit schönen Worten wie Barmherzigkeit für alle, sind aber in der Kritik an ihrer Gemeinschaft bar jeder Sympathie und Barmherzigkeit. Diese Obsession nach Anerkennung und Lob durch die Mehrheitsgesellschaft kann nur als pathologisch eingestuft werden.
Die weitere Folge ist, dass die Minderheit sich nun selbst unter Druck setzt, der Mehrheit beweisen zu müssen, dass sie keine bösen Absichten verfolgt. Die Aufklärungsarbeit in Bezug auf die eigene Religion und der Dialog werden intensiviert, was aber großflächig eher zu unguten Ergebnissen führt.
Als Nächstes entstehen in der Minderheit Gruppierungen, die jene – aus Sicht der Mehrheitsbevölkerung – Ecken und Kanten ihrer religionsgemeinschaftlichen Identität abschleifen wollen und sich durch Begrifflichkeiten wie „liberal“ oder „säkular“ von ihrer Gemeinschaft abgrenzen. Auch hier kann die Motivationsgrundlage vielfältig sein und sollte daher nicht simplifizierend als opportunistisch abgetan werden. Problematisch ist jedoch, dass diese Gruppen sich mit dieser Vorgehensweise als positive Alternative auf- und zugleich den Rest ihrer Gemeinschaft abwerten.
Gedanklich ist der Schritt dieser Gruppen erst einmal gar nicht so verkehrt, denn wenn Reibung rausgenommen wird, gibt es auch weniger Funken. Aber am Ende ist eine solche Religionsgemeinschaft gänzlich abgeschliffen. Sie ist bar jeder eigenständigen religions-gemeinschaftlichen Identität. Langfristig betrachtet, kann ein solches Religionsverständnis weder an die nächste Generation weitergegeben werden noch können Menschen zu dieser Religion finden oder Religion eine konstruktive gesellschaftliche Relevanz entfalten, da sie zur Esoterik verkommen ist.
In diesem Moment verschlimmert der Dialog eigentlich nur noch alles und es entsteht ein „Teufelskreislauf“, indem Ursache und Wirkung vertauscht werden. Richtig wäre es an dieser Stelle seiner vertikalen Beziehung zu Gott sowie dem damit verbundenen Selbstwert und Selbstverständnis bewusst zu werden. Hinter dem Verbiegen bis zur Selbstunkenntlichkeit steckt Angst. Angst, die dominante Seite zu enttäuschen, da man sich nach deren Wertschätzung und Anerkennung sehnt. Angst vor materieller und sozialer Benachteiligung. Angst, in der gesellschaftlich subdominanten Position zu verharren. Diese Ängste beeinträchtigen zugleich die vertikale Beziehung zu Gott, da sie Gläubige in ein Abhängigkeitsverhältnis zu etwas anderem als Gott bringen. Es gilt, diese Ängste zu überwinden, indem man sich in einem vernünftigen und humanen Maß von der Übergriffigkeit der dominanten Seite abgrenzt und aus dem Hamsterrad der aufgezwungenen und saisonal wiederkehrenden toxischen Diskurse aussteigt.
Das ist leichter gesagt als getan, da die Minderheit infolge der ewigen Wiederkehr toxischer Diskurse und dem Irrglauben, dass Dialog in asymmetrischen Beziehungen zu Verbesserungen führt, getriggert wird zu reagieren. Doch die Reaktion hierauf verstärkt die bereits schwächere Position des Reagierenden nur weiter, denn der dominanten Seite ist es abermals gelungen, die subdominante Seite zu provozieren. Dies verfestigt die Position der Stärke und Macht des Dominanten über den Subdominanten. Die größte Angst des Dominanten ist, dass er keine Reaktion mehr erzielt. In einem solchen Moment verliert er nämlich seine Macht über den Subdominanten und ist auf sich selbst zurückgeworfen. Freundliche Gleichgültigkeit gegenüber diesen Provokationen ist demnach die beste Handhabe.
Emotionale Autonomie lautet hier das Schlüsselwort. Durch Distanzierung und das Umlenkung der ohnehin knappen Ressourcen einer Minderheit in Projekte, die der Gemeinschaft tatsächlich und langfristig zugutekommen, bleiben der dominanten Position nur zwei Handlungsoptionen: Repression oder Entgegenkommen. In jedem Fall ist es eine Abgabe von Macht, da man sich mit einem Mal um die Aufmerksamkeit der Minderheit bemühen muss, obwohl es ja umgekehrt sein sollte. Die Dynamik zwischen Mehrheit und Minderheit verändert sich. Die Minderheit bemüht sich nicht länger vergebens, die Mehrheit von sich zu überzeugen oder sie unbeabsichtigt in ihrer dominanten Position zu bestätigen. Durch das Verlassen von toxischen Diskursen, die lediglich dominante-subdominante Herrschaftsstrukturen abbilden, hat sich die Minderheit emanzipiert, wohingegen die dominante Seite in ihrer Perplexität diesen Schritt zunächst als Beleidigtsein oder Resignation fehldeutet. Nein zur Mehrheit zu sagen, wird in diesem Kontext zu einem der mächtigsten Wörter, die eine Minderheit besitzt. Das Nein ist befreiend. Das Nein ist eine Absage an die Mehrheitsgesellschaft, weiterhin als Sündenbock und Prellbock gesellschaftstragend zu sein.
Was also tun, wenn Reden alles nur noch schlimmer macht? Etablierten Herrschaftsstrukturen, insbesondere, wenn sie von sozialen, ökonomischen und rassistischen Benachteiligungen begleitet werden, können durch wirtschaftlichen Aufstieg infolge von Unternehmertum und finanzieller Unabhängigkeit unterlaufen werden. Wirtschaftlicher Auf-stieg bedeutet zugleich Bildungsaufstieg und somit eine Begegnung auf Augenhöhe mit der Bildungselite der Mehrheitsgesellschaft. Eigene Unternehmen ermöglichen, berufliche Räume für benachteiligte, aber qualifizierte Mitglieder aus der eigenen Gemeinschaft zu öffnen, die ihnen wiederum den sozialen Aufstieg ermöglichen. Dies führt zu einer Anhäufung von Kapital, das in die eigene Gemeinschaft in Form von Stiftungen investiert werden kann, die in weiterer Folge eine Professionalisierung und Umsetzung von Projekten von der Gemeinschaft für die Gemeinschaft finanzierbar machen. Finanzielle Unabhängigkeit durch multiple Einkommen garantiert wiederum die intellektuelle Unabhängigkeit, Integrität und Selbstachtung von Gelehrten, Philosophen und Intellektuellen, sodass das Machtungleich-gewicht derart verringert wird, dass sich beide Seiten nach einer Phase der Distanzierung und des Ausstiegs aus toxischen Diskursen auf Augenhöhe begegnen können. Und bis dahin Dialogpause?
Nein, denn dies würde zu Isolationismus führen. Eine Minderheit sollte stets das dominante-subdominante Machtverhältnis im Dialog reflektieren und dieses mit der dialogischen Theorie und der Nächstenliebe verbinden. Dann müssen Asymmetrien kein Hindernis darstellen, um ein Gespräch zu führen, bei dem beide Seiten Augenhöhe anstreben und in dem allein die Macht des Argumentes gilt. Auf diese Weise gelangt man zu einem konstruktiven Dialog.
Sich die emotionale Autonomie zu bewahren, statt sich wieder in den Kreislauf toxischer Diskurse zu integrieren, bedeutet, sich stets zu vergewissern, weshalb man sich in einen bestimmten Diskurs einschaltet bzw. ihn anstößt. Immer wenn die Antwort lautet, eine Veränderung bei der Mehrheitsgesellschaft erzielen zu wollen, sollte man von dem Vorhaben ablassen.
Die Verbindung von Dialogtheorie und Nächstenliebe bedeutet, die Würde des Menschen ernst zu nehmen, da keine Willkürmacht unliebsame Personen und Meinungen oder Überzeugungen und Ziele, die diametral zu den eigenen stehen, zum Verstummen bringt. Hier nehmen Menschen sich gegenseitig ernst und befinden sich auf Augenhöhe, statt einander zu diffamieren, auszugrenzen oder in Feindbildern zu denken.¹⁸
Die Verbindung von Dialogtheorie und Nächstenliebe bedeutet zudem, die Meinungs-freiheit ernst zu nehmen, denn was ist Meinungsfreiheit anderes als die Artikulation eines Gedankens. Wo die Meinungsfreiheit unterdrückt wird, wird das Denken unterdrückt. Aber zugleich muss die Grenze dort gezogen werden, wo Inhumanes und Extremistisches propagiert und Verschwörungstheorien geraunt sowie falsche Tatsachenbehauptungen in Umlauf gebracht werden. Aber alles darunter muss im Sinne der Toleranz geduldet, ertragen und ausgehalten werden, weil die Menschen in dieser Dialogform sich als Gleichgestellte erachten, die einander mit Respekt und Achtung begegnen.
Die Verbindung von Dialogtheorie und Nächstenliebe ist es schließlich, die demokratisch, und offen ist, die den Streit der Meinungen und das Abwägen der Argumente respektiert, die eine Suche nach einer menschenwürdigen und erwachsenen Gesellschaft darstellt und die bei allem Dissens ein Miteinander-im-Gespräch-bleiben ermöglicht. Ihr Ergebnis ist eine grundsätzliche menschenfreundliche Toleranz, die freiheitsfördern ist und sichtbare Pluralität zulässt.¹⁹
Der konstruktive Dialog ist aber auch ein Dialog, bei dem Dialogwortführer ihre Geisteskräfte nicht an jedem gesellschaftlichen Aufreger, der ohnehin in ein paar Tagen von einem anderen abgelöst wird, verschwenden. Die Kunst ist es, sich zurückzuziehen, Kräfte zu sparen und zu sammeln, welche später einmal der Gesellschaft bei den wirklich wichtigen Fragen zugutekommen. Über was sollte also gesprochen werden?
Der Dialog der Verantwortung
Anderen gegenüber so zu handeln, wie Gott sich gegenüber der Menschheit verhält. Im weitesten Sinne dieses Wortes, der Pflicht, ist es die Pflicht zu lieben und zu vergeben. (…) Ich möchte euch bitten, euch in diesen Momenten daran zu erinnern, dass keine Verpflichtung unseres heiligen Propheten zwingender ist (…) als die vollkommene Verwirklichung unserer Pflicht den anderen zu lieben und zu tolerieren. (Muhammad Ali Jinnah)²⁰
Nichts repräsentiert den Zusammenhalt einer Gesellschaft mehr als das Bild vom Wirtschaftskuchen. Von Jahr zu Jahr gilt es unter Ausnutzung sämtlicher verfügbarer Ressourcen, diesen Kuchen so groß wie nur möglich zu backen. Nur so kann sichergestellt werden, dass jede Gruppe bei der Krümelverteilung für die nächsten zwölf Monate zufriedengestellt wird. Andernfalls bekommt es eine Gesellschaft sehr schnell mit sehr harten Verteilungskämpfen zu tun. Und wir Muslime? Sind wir auch nur eine Gruppe im kapitalistischen System? Wie verträgt sich dies mit der Aufgabe, die Gott dem Menschen aufgetragen hat, sein Statthalter auf Erden zu sein (ḫalīfa fī ʾl-arḍ)? Gibt es überhaupt eine breite Reflexion seitens der Muslime, was diese Aufgabe heutzutage beinhaltet und wie Muslime ihr gerecht werden können?
Der muslimische Intellektuelle Ashgar Ali Engineer (gest. 2013) zeichnete infolge des Klimawandels ein düsteres Bild von der Zukunft des Menschen. Weite Teile dieses Planeten, so Engineer, drohen unbewohnbar zu werden. Schon heute sind 77 Prozent der Erdoberfläche nicht mehr Urnatur. Statt also weiterhin einander als Feinde wahrzunehmen, sollten die Menschen anerkennen, dass sie gemeinsam vor einer ökologischen Herausforderung stehen, die nur durch Zusammenarbeit bewältigt werden kann. Andernfalls drohen ein Massensterben aufgrund von Wassermangel, Luftverschmutzung und Dürre sowie Flüchtlingsströme und Kriege um die letzten noch lebenswerten Flecken dieser Welt und ihre endlichen Ressourcen.²¹ Drei Milliarden Menschen, so bestätigt auch der Paläoklimatologe Gerald Haug, droht zum Ende des Jahrhunderts, keine Lebensgrundlage mehr zu haben.²²
Engineer drückte zwar die Hoffnung aus, dass durch Kooperation die Folgen des Klimawandels abgemildert werden könnten,²³ doch heute wissen wir, dass es zu spät ist. Der Klimawandel hat bereits begonnen und seine verheerenden Folgen werden wir in den kommenden Jahrzehnten zu spüren bekommen.
Schätzungsweise wird die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2100 auf etwa zehn Milliarden Menschen anwachsen. Sie alle wollen ernährt werden. Dazu muss der Erde aber noch mehr Nahrung abgerungen werden, was durch die Folgen des Klimawandels kaum gelingen wird. Die in diesem Zusammenhang stehenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche und Verwerfungen werden Proteste unterschiedlicher Art hervorrufen. Nach Karl Marx (gest. 1883) prägt das gesellschaftliche Sein des Menschen sein Bewusstsein.²⁴ Die Sprache des Protestes wird bei säkular eingestellten Menschen säkular und bei religiös eingestellten Menschen religiös zum Ausdruck kommen. Er wird die Gestalt von alternativen und revolutionären bis hin zu terroristischen Bewegungen annehmen. Das Leben, wie wir es heute kennen, „in arbeitsteiligen und verflochtenen, in historisch unvergleichlich friedfertigen und sozial einbindenden Gesellschaften“²⁵, wird zu einem Ende kommen. Die Welt wird härter, ungleicher, schmutziger und düsterer.²⁶
Das Bild vom Wirtschaftskuchen ist nicht zukunftsfähig. Die Wirtschaft kann nicht unendlich wachsen. Dieser Kuchen birgt die Schadstoffe der sozialen Verwerfung, der Zerstörung der Schöpfung und damit der Entkopplung des Menschen von Gott in sich. Dieser Kuchen kann keine intra- und intergenerationale Gerechtigkeit und Solidarität schaffen. Er ist ein Problem. Haben wir Muslime eine Lösung?
Der Mensch wird erkennen müssen, dass er nicht über der Schöpfung steht, sondern in ihr eingebettet ist, andernfalls wird er untergehen. Lernen, ein Teil der Schöpfung zu sein, innerhalb ihres Rahmens zu leben und sich zu beschränken, wird Themenfeld einer Wissenschaft sein, die bald schon die bedeutsamste aller Wissenschaften sein wird: die Ökologie. Dieses Nachdenken hierüber muss jetzt stattfinden, denn das Wirtschaften der Menschen in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart tötet die Menschen der Zukunft. Von dem Schlagwort Wirtschaftlichkeit, das Umweltregularien außer Kraft setzen will, und einem naiven Innovationsglauben, der davon ausgeht, dass eine technologische Erfindung das Problem Klimawandel schon lösen wird, sollte sich niemand täuschen lassen. Das Gleiche gilt für Verschleierungsaktionen von Klimaaktivisten, die einen Tag X ausrufen, bis zu dem unbedingt noch etwas getan werden muss, um den Klimawandel abzuwehren, der dann aber immer wieder verschoben wird, um den Aktivismus am Leben zu erhalten. Die Zukunft ist bereits eingetreten und wir befinden uns mitten in einem Dialog mit den Menschen von morgen. Wir mögen ihre Stimmen nicht hören, aber dafür hören sie uns. Der Klimawandel fordert unser Gattungsbewusstsein als Menschen heraus. Die Religionsgemeinschaften mit ihrem unvergleichlichen ethischen Imperativ können hier zu den großen Menschheitslehrern werden, so etwa die muslimische umma mit ihrem Dreiklang von
▪ der Einheit von Gottes Schöpfung, wonach alles miteinander im Zusammenhang steht,
▪ dem Verständnis, dass die Schöpfung ein Zeichen (āya) für die Präsenz Gottes ist,
▪ der Verantwortlichkeit des Menschen für die Schöpfung und die eigene Art als Gottes Statthalter (ḫalīfa fī ʾl-arḍ).
Dieser Dreiklang wurde im 10. Jahrhundert von den iḫwān aṣ-ṣafāʾ (Die Lauteren Brüder) in eine Philosophie gegossen, genannt insāniyya (Philosophie der Menschlichkeit).²⁷
Da die gesamte Schöpfung ihren Ursprung von Gott hat, gilt für den Menschen als Gottes Statthalter und Teil der Biosphäre, achtsam mit ihr umzugehen, da er ethisch den kommenden Genrationen gegenüber dafür verantwortlich ist, dass sie eine lebenswerte Welt erben.²⁸ Nur in der Wahrnehmung dieser Verantwortung, so die Lauteren Brüder, kann der Mensch sein in ihm ruhendes Potenzial aktivieren und mehr sein als nur ein Tier.²⁹ Je konstruktiver die Menschen ihre Potenziale einsetzen, desto mehr nähern sie sich Gott an, d. h. sie finden zur Erkenntnis ihrer selbst, ihres Da-Seins. Handelt der Mensch jedoch destruktiv sich selbst und der Pflanzen- und Tierwelt gegenüber, so entfernt er sich von der Erkenntnis über sein Selbst und damit von Gott.³⁰ Umweltschutz ist demnach eine Selbst- und Gottbeziehung. Die Lauteren Brüder schreiben – und wir können dies auf das Bild vom Wirtschaftskuchen übertragen:
Wer in diesem Leben sich ausschließlich mit Essen, Trinken und sexuellen Bedürfnissen beschäftigt, nur Geld, Möbel und andere materielle Dinge sammelt und anhäuft und nach destruktiver Macht strebt, wodurch Wissen und Erkenntnisse vernachlässigt werden, der wird, wenn er stirbt, die Welt unwissend verlassen, so wie er unwissend auf die Welt gekommen ist.³¹
Als eine „Krankheit“ bezeichneten die Lauteren Brüder eine autodestruktive Lebenshaltung, während „Heilung“ einen konstruktiven Weg darstellt, zu der im Qurʾān geforderten Balance (mīzān) von Mensch, Natur und Kosmos zurückzufinden.³² Und in dieser Heilung erfüllt der Muslim seine Aufgabe als Statthalter auf Erden. Zugleich liegt hier die Zukunft des Dialogs, im Erlernen und Lehren eines neuen Umgangs mit der Schöpfung. Gott schuf die Erde, um die Menschen zu prüfen. Dialog kann keine Nabelschau sein, bei der die Religionsgemein-schaften nur um sich kreisen, sich ziellos in den Nebeln und Wolken der Metaphysik verlaufen oder an tertiären Themen aufreiben und verbrauchen. Dialog braucht Stofflichkeit. Greifbare Ergebnisse, die die einzigartige Relevanz von Religion und ihrem Gestaltungsanspruch und -willen herausstellen. Einfach ausgedrückt: Dialog muss die Lebenswirklichkeit des Menschen wieder in den Blick nehmen. Dialog muss kühne Visionen und ehrgeizige Projekte entwerfen, die die Religionsgemeinschaften mittels ihrer Ressourcen und Kapazitäten angehen. Weniger Gedöns und mehr Aktion. Religionsgemeinschaften sollten Arbeitsgemeinschaften statt Wortgemeinschaften sein. Sie sollten sich ihrer planetaren Verantwortung als Zeichen Gottes in der Welt bewusst sein und durch ihr Handeln in Nächstenliebe diese Welt transformieren. Gerade die Zusammenarbeit und Kooperation zwischen Gläubigen unterschiedlicher Religionen, Schulter an Schulter, Hand in Hand schaffen mehr Vertrauen, Bindung und Einsicht als jedes Wort.
Folglich bedeutet dies, dass kein Handeln des Menschen und keine Wissenschaft an der Frage der Menschlichkeit vorbeikommen. Schutzmaßnahmen bzgl. des Klimawandels müssen wir jetzt ergreifen, einen neuen Umgang mit der Schöpfung hinsichtlich Landwirtschaft, Tierhaltung, Ernährung, Konsum und Ressourcenverbrauch sowie fairen Handel, einer grüner Architektur (historisches Stichwort: Gartenstadt) und eines menschenwürdigen Wohnens müssen wir jetzt erlernen. Hierbei tatkräftig und messbar mitzuwirken, sollte Kern des interreligiösen Dialogs sein, der ein Dialog der Verantwortung sein sollte, sowohl intra- als auch intergenerational. Sein Ziel wird dieser Dialog erreicht haben, wenn das Prinzip insāniyya Sozialprinzip geworden ist und der Lebensraum Erde so geteilt wird, dass alle, heute und morgen, einigermaßen gut leben können, aber auch die Ressourcen der Erde nicht überstrapaziert werden.
Einzelnachweise
1. Jüdische Allgemeine (2020).
2. Fuchs, Christian (2020).
3. Vgl. Bachmann-Medick, Doris (2004).
4. Weizsäcker, Richard von (1985).
5. Küng, Hans (2008: 135).
6. Siehe: Interreligiöser Think-Tank (2015): Leitfaden für den interreligiösen Dialog. Basel.
7. Vgl. Bachmann-Medick, Doris (2004).
8. Lanz, Markus (2020).
9. Marchard, Jan Michael (2020).
10. Vgl. Murtaza, Muhammad Sameer (2016: 344).
11. Vgl. Krone, Lisa-Marie (2022: 69).
12. Vgl. ebda. (72).
13. King, Martin Luther (1968: 51).
14. Vgl. Krone, Lisa-Marie (2022: 73).
15. Scheliha, Arnulf von (2019: 18).
16. Vgl. Klinkhammer, Gritt (2022: 217)
17. Vgl. ebda. (225).
18. Vgl. Nida-Rümelin, Julian (2023: 128).
19. Vgl. Nida-Rümelin, Julian (2023: 19-20).
20. Devji, Faisal (2013: 227-228).
21. Vgl. Engineer, Ashgar Ali (2011: 173-174).
22. Vgl. Knobbe, Martin; Traufetter, Gerald (2020).
23. Vgl. Engineer, Ashgar Ali (2011: 184).
24. Vgl. Lahbabi, Mohamed Aziz (2011: 183).
25. Schmitt, Stefan (2017: 1).
26. Vgl. ebda.
27. Vgl. Quintern, Detlev (2010: 8).
28. Vgl. ebda. (132).
29. Vgl. ebda. (137).
30. Vgl. Quintern, Detlev; Ramahi, Kamal (2006: 112).
31. Ebda.
32. Vgl. ebda. (332).
Literatur
Bachmann-Medick, Doris (2004): Einsturzgefahr beim völkerverbindenden Brückenbau. Internet: https://www.bachmann-medick.de/wp-content/uploads/2019/02/Einsturzgefahr.pdf (30.09.2020).
Devji, Faisal (2013): Muslim Zion. Pakistan as a political Idea. London.
Engineer, Asghar Ali (2011): The Prophet of Non-Violence. Spirit of Peace, Compassion & Universality in Islam. New Delhi.
Fuchs, Christian (2020): „Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AFD“. Internet: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-09/christian-lueth-afd-alexander-gauland-menschenfeindlichkeit-migration/komplettansicht (24.10.2020).
Interreligiöser Think-Tank (2015): Leitfaden für den interreligiösen Dialog. Basel.
Jüdische Allgemeine (2020): „Antisemitische, frauenfeindliche Agenda“. Internet: https://www.juedische-allgemeine.de/politik/antisemitische-frauenfeindliche-agenda/?q=schr%C3%B6ter (24.10.2020).
King, Martin Luther (1968): Wohin führt unser Weg? Chaos – oder Gemeinschaft. Düsseldorf.
Klinkhammer, Gritt (2022): Der christlich-muslimische Dialog und sein enges Verhältnis zur
massenmedialen Berichterstattung. In: Güneş, Merdan; Kubik, Andreas; Steins, Georg: Macht im interreligiösen Dialog: Interdisziplinäre Perspektiven. Freiburg im Breisgau: 211-235.
Knobbe, Martin; Traufetter, Gerald (2020): „Wir katapultieren uns in eine Superwarmzeit“. Internet: https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/gerald-haug-zur-klimakrise-wir-katapultieren-uns-in-eine-superwarmzeit-a-00000000-0002-0001-0000-000173621985 (05.03.2021).
Küng, Hans (2008): Projekt Weltethos. München.
Krone, Lisa-Marie (2022): Hannah Arendt über die Macht der Gemeinschaft. In: Güneş, Merdan; Kubik, Andreas; Steins, Georg: Macht im interreligiösen Dialog: Interdisziplinäre Perspektiven. Freiburg im Breisgau: 68-74.
Lahbabi, Mohamed Aziz (2011): Der Mensch: Zeuge Gottes. Entwurf einer islamischen Anthropologie. Freiburg.
Lanz, Markus (2020): Sendung vom 24.09.2020. Internet: https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-24-september-2020-100.html (ab 1:05:28) (24.10.2020).
Marchard, Jan Michael (2020): Islamtheologe Khorchide: „Politischer Islam ist viel gefährlicher als Jihadismus“. Internet: https://www.derstandard.at/story/2000118871137/islamtheologe-khorchide-politischer-islam-viel-gefaehrlicher-als-jihadismus (24.10.2020).
Murtaza, Muhammad Sameer (2016): Islamische Existenzialphilosophie – Muhammad Iqbal nietzscheanisch gelesen. Norderstedt.
Nida-Rümelin, Julian (2023): „Cancel Culture“: Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken. München.
Quintern, Detlev (2010): Horizonte eines neuen Humanismus. Nordhausen.
Quintern, Detlev; Ramahi, Kamal (2006): Qaramaṭen und Iḫwān aṣ-ṣafāʾ. Gerechtigkeitsbewegungen unter den Abbāsiden und die Universalistische Geschichtstheorie. Hamburg.
Scheliha, Arnulf von (2019): Politik im neutralen, säkularen Staat – Wie reagier(t)en die christlichen Konfessionen und Kirchen? In: Mokrosch, Reinhold; El Mallouki, Habib: Religionen und der globale Wandel: Politik, Wirtschaft, Bildung. Stuttgart: 17-28.
Schmitt, Stefan (2017): Es wird eng. In: Die ZEIT (2): 1.
Weizsäcker, Richard von (1985): Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zur Eröffnung des VII. Kongresses der internationalen Vereinigung für germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft. Internet: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/08/19850826_Rede.html (20.07.2024).