von Dr. Raid Al-Daghistani (Universität Münster)
Man kann zunächst feststellen, dass der Begriff „Sufismus“ oder auch „Sufitum“ (arab. taṣawwuf) ein im deutschsprachigen Raum relativ etablierter Begriff ist. Doch was Sufitum sowohl in seinen wesentlichen Bestimmungen, d. h. seinen theoretischen Grundsätzen und verschiedenen praktischen Umsetzungen nach sowie in seinen historischen Kontexten tatsächlich bedeutet, wird immer noch sowohl unter MuslimInnen als auch NichtmuslimInnen kaum – wenn überhaupt – entsprechend wahrgenommen. Die mannigfaltigen Facetten des Sufitums erschweren Versuche zur Bestimmung eines einheitlichen Wesens sowie seine genauere Verortung innerhalb des Islams. Annemarie Schimmel macht dies zum Beispiel unter Rückgriff auf die bildreiche Sprache der Sufis deutlich.
Doch man sollte zunächst zum arabischen Originalbegriff zurückkehren. Der Begriff „Sufitum“ bzw.
„Sufismus“ ist nämlich eine deutsche Umschreibung des arabischen Begriffes taṣawwuf. Dieser wird in der klassischen Sufi-Literatur mindestens auf die folgenden drei häufigsten Erklärungsversuche zurückgeführt: (1) auf ṣūf, was auf Arabisch „Wolle“ bedeutet und auf die typischen Wollgewänder der ersten muslimischen Asketen und Asketinnen hinweist; (2) auf ṣafāʾ, was auf Arabisch „Reinheit“ bedeutet und auf die spirituelle Läuterung und die Bemühung um die Herzensreinheit der Sufi- MystikerInnen hinweist; und (3) auf ṣaff, was auf Arabisch „Reihe“ bedeutet und sich auf die Sufi- Haltung bezieht, sich in der ersten „Reihe“ vor Gott zu stellen bzw. Gott in der ersten Reihe in eigenem Herzen zu stellen. Das sind die gängigsten und meistverbreiteten Erklärungsversuche des Begriffes taṣawwuf. Doch wie der Sufi-Meister und der Autor eines der bedeutendsten Handbücher zum Sufismus, Abū l-Qāsim al-Qušayrī (gest. 1072), trefflich beobachtet, kann keine dieser Erklärungsversuche allein das Wesen und die Ganzheit des Sufitums wiedergeben. Denn, das Sufitum als Wissen, Weg und Wirklichkeitserfahrung ist mehr als das, was seine rein etymologische Bedeutung wiedergibt.
Im Allgemeinen lässt sich jedoch das Sufitum im Sinne der mystischen Dimension (A. Schimmel) bzw. der purgativ-kontemplativen Tradition im Islam (A. Knysh) als eine besondere Form der islamischen Frömmigkeit (A. Karamustafa) und als sowohl einen Initiationsweg als auch eine Wissenschaft des Inneren, ʿilm al-bāṭin, (È. Geoffroy) bezeichnen.
Genauer betrachtet, kann das Sufitum – und das ist mein Versuch einer Definition dieses Phänomens – als einen initiatischen und stufenartigen Läuterungs- und Erkenntnisweg (ṭarīqa/sulū) im Islam interpretiert werden, der formell mit der inneren Umkehr (Akt der Reue) beginnt und der aus verschiedenen sogenannten spirituellen „Stationen“ (maqāmāt) und inneren „Zuständen“ (aḥwāl) besteht. Das höchste Ziel dieses Weges ist die auf der geistigen Reinheit und mystischen Erkenntnis gegründete moralisch-religiöse Vervollkommnung (iḥsān) des Menschen, die wiederum mit der mystischen Gotteserfahrung- bzw. Gotteserkenntnis (fanāʾ fī-llāh; maʿrifa) eng zusammenhängt.
2. Sufitum als Ethik und Ethos
Trotz seiner zahlreichen Facetten und Aspekte wird das Sufitum von seinen prominentesten Vertreterinnen und Vertreter mehrheitlich und primär gerade als einen Weg der religiös-moralischen Vervollkommnung aufgefasst und somit im Horizont der spirituellen Läuterung, der Kultivierung der Tugenden, der Umwandlung persönlicher Eigenschaften und der Bildung des eigenen Charakters verstanden.
Ein solches Verständnis geht auf einen Hadith, auf eine islamische Überlieferung zurück, nach welcher der Prophet Muhammed (s.a.w.s.) vom Engel Gabriel nach drei Grunddimensionen der islamischen Religion gefragt wurde: nach dem Islām, nach dem Imān und nach dem Iḥsān. Während er den Islām durch die sogenannten fünf Säulen der Religion und den Imāndurch die sechs Glaubensgrundsätze des Islams definiert hat, gab er auf die Frage, was Iḥsānsei, eine Antwort, die zum Leitmotiv und zum Ideal der Frömmigkeit und Moralität im Sufitum wurde: „Dass du Gott so anbetest, als ob du Ihn sehen würdest und auch wenn du Ihn nicht siehst, wisse, dass Er dich sieht.“ Der Iḥsān steht somit für die Vervollkommnung des religiösen Bewusstseins und für die Vervollständigung der damit zusammenhängenden Daseinsweise des Menschen.
So wird das Sufitum in der ersten Linien als einen Weg der spirituellen Reinheit im Islam verstanden, der verschiedene purgative Techniken und Methoden umfasst, wie z.B.: Reue, Verzichtsübung, Kultivierung der Bescheidenheit, Achtsamkeitstraining, Meditation in Form des rituellen Gottgedenkens (manchmal auch in Begleitung der Musik und des Gesangs), religiöse Introspektion, Gebet und auch physische Arbeit. Kurzum: Das Sufitum kann als eine Tätigkeitssphäre für die Kultivierung der Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit interpretiert werden, zu welchen die Geduld, Dankbarkeit, Demut, Großzügigkeit, Güte, Gottesfurcht, Liebe und Ichlosigkeit im Vordergrund steht. Im Sufitum geht es um Selbstdisziplin und Selbstüberwindung.
Das Sufitum wird häufig schlicht mit der Erlangung der Gutartigkeit gleichgesetzt, die auch das Hauptmerkmal der Sufi Mystikerinnen und Mystiker darstellen sollte. Diesbezüglich konstatiert der Autor des Handbuches zum Sufismus Adab al-Mulūk (Die Lebensweise der Könige), hier in der Übersetzung von Richard Gramlich, Folgendes: „Die Charaktereigenschaften der Sufis sind Gutartigkeit (aḫlāq), sanftes Sprechen, Friedfertigkeit, heiteres Aussehen, fröhliches Auftreten, Liebe und Altruismus (…) […] Man sagt: Sufitum ist Gutartigkeit.“ (Gramlich, Die Lebensweise der Könige / Adab al-Mulūk, S. 91)
Die paradigmatische Formulierung des Sufismus als einen Weg der Gutartigkeit par excellence finden wir aber bei dem bereits mehrmals erwähnten Sufi-Meister aus Bagdad, der auch weit über den Sufi-Kreisen hinaus als religiöse Autorität anerkannt und respektiert wird, nämlich Abū l-Qāsim al-Ǧunayd, der behauptet kategorisch: „Sufitum ist Gutartigkeit [ḫulūq, guter Charakter]. Wer dich an Gutartigkeit übertrifft, übertrifft dich an Sufitum.“ So zählen zu den edelsten Moralqualitäten und besten Eigenschaften, die man sich aneignen soll, die folgenden Tugenden: Geduld, Milde, Ehrlichkeit, Gottesfürchtigkeit, Aufrichtigkeit, Vergeben, Dankbarkeit, Gutartigkeit, Nachsichtigkeit und Altruismus.
3. Die Ästhetische Dimension des Sufitums
Als eine komplementäre Dimension zum bereits geschilderten purgativ-moralischen Charakter des Sufitums kann die ästhetische Dimension herangezogen werden. Dabei lassen sich unter anderem mindestens die folgenden Aspekte, die auf einer oder anderer Weise mit Ästhetik, Schönheit und auch Sinnlichkeit zu tun haben, hervorheben:
Insbesondere in weitgespannten und überwiegend lyrischen Werken ʿAṭṭārs – dessen Werk auch im Rahmen der hiesigen Themenabende gelesen wurde – sind Naturphänomene sehr stark präsent. In seiner mystischen Dichtung und Geschichtserzählung herrscht nicht nur die Vorstellung, dass der Mensch durch die Natur – d.h. durch die Kontemplation über die Schöpfung und seine Wunder – zu Gott findet, sondern auch die Idee, dass Gott durch die Natur auf allen ihren Ebenen und Subebenen zu den Menschen spricht – und zwar nicht in einer „gesprochenen Sprache“, sondern in der Sprache des Zustandes, welche nicht nur mit bloßen Ohren und mit bloßem Verstand wahrgenommen wird, sondern vielmehr in einem Zustand der göttlichen „Eingebung“ (ilḥām) und mystischer „Enthüllung“ (kašf) und durch eine große Empfänglichkeit für das Schöne und das Geheimnisvolle.
Darüber hinaus gehört die Erfahrung des Einsseins mit der Natur und mit dem Universum zu einer der häufigsten und grundlegendsten mystischen Erfahrungen des Menschen. In der extrovertierten Einheitserfahrung ist der Mensch durchdrungen vom Gefühl der unmittelbaren Vereinigung und Verschmelzung mit der Natur, mit der Umwelt, mit dem ganzen Kosmos. Es ist eine existenzielle Erfahrung der Ausdehnung des eigenen Selbst.
Der andere Aspekt, der im Kontext der ästhetischen Dimension des Sufitums wenigstens kurz erwähnt werden soll, ist der sufische Bezug auf Kunst der Kalligraphie. Islam ist vielleicht wie keine andere Religion durch Ästhetik geprägt. Einem Prophetenspruch zufolge ist „Gott schön und Er liebt die Schönheit“ (Allahu ǧamilun wa yuhibu-l-ǧamāl). Für den pakistanischen Dichter und Philosophen Muhammad Iqbal ist die Gottesgegenwart selbst in Seiner Schönheit gegeben, die sich in jedem Seienden als Schönheit manifestiert. Die angesehene deutsche Islamwissenschaftlerin und Koranforscherin Angelika Neuwirth konstatiert diesbezüglich eindeutig: „Den Islam versteht erst, wer ihn ästhetisch begreift.“ Zugleich ist Islam wie kaum eine andere Religion durch das geschriebene Wort gekennzeichnet. Der Bereich, in dem Ästhetik und Schrift auf besondere Weise zusammentreffen, ist eben die Kunst der Kalligraphie, die wiederum sowohl geschichtlich als auch strukturell gesehen eine sehr starke Verbindung mit der mystischen Tradition des Sufitums aufweist. So lässt sich meiner Meinung nach in Bezug auf Kalligraphie von einer Spiritualisierung der Ästhetik und einer Ästhetisierung der Spiritualität sprechen. Das Verhältnis zwischen Kalligraphie und Mystik weist im Islam eine einzigartige Innendynamik auf. Denn erst die muslimischen Mystiker und Mystikerinnen ermöglichten die Erschließung der tieferen Bedeutung der Kalligraphie, indem sie sich durch Kontemplation und Meditation ihrem Wesen und ihrer Natur annäherten. Der sufischen Auffassung nach verbirgt die Offenbarungsschrift das Geheimwissen von einzelnen Buchstaben, deren Zahlenwert unter anderem zu „mystischen Interpretation von Namen und Begriffen“ führen kann. Kurzum: Der hermeneutische Ansatz der Sufis, in den einzelnen Buchstaben immer wieder neue Bedeutungen und Sinnebenen zu entdecken, fand ihren kreativsten Ausdruck eben in der Kalligraphie. Der Buchstabe erhebt sich daher in der islamischen mystischen Tradition zu einer subtilen „Manifestation des Göttlichen“. Es ist kein Zufall, dass die Kunst des Kalligraphierens jahrhundertelang in Kontexten frommer Alltagspraxis der Sufis und Derwische mit großer Hingabe und Kreativität gepflegt wurde. Mehr noch: Die Kunst der Kalligraphie stellt im Kontext des Sufitums geradezu eine Kontemplationsmethode über das koranische Wort und somit eine Technik des spirituellen Aufstiegs des Menschen zu Gott.
4. Fazit: Sufitum – tauglich für die flüchtige Moderne?
Abschließend können zusammenfassend die folgenden Punkte festgehalten werden: Das Sufitum (taṣawwuf) kann zu Recht als islamische Mystik im Sinne einer purgativ-kontemplativen Tradition im Islam interpretiert werden. Der Sufismus lässt sich in einer doppelten Grundbestimmung als stufenartiger „Weg“ (ṭarīq/sulūk) und spirituelles „Wissen“ (ʿilm) auffassen und stellt somit einen Läuterungs- und Erkenntnisweg im Islam dar. Das Ziel des Sufitums ist die mystische Gotteserfahrung, die mit der ethisch-spirituellen Vervollkommnung des Menschen (iḥsān) eng zusammenhängt (sein es als Ergebnis der intensiven Läuterung, sei es als eigentliche Voraussetzung für die spirituelle Reinheit). Beim Sufitum geht es primär um eine Geistigkeit, die ethisch ist, und um eine Ethik, die geistig ist. Die ethische Relevanz der spirituellen Läuterung im Sufismus besteht in zwei Hinsichten: als Prozess selbst (Stichwort: Selbstüberwindung) und als das angestrebte Ergebnis (Stichwort: Tugend und guter Charakter). Dabei spielt die ästhetische Dimension des Sufitums, die sich sowohl im sufischen Bezug auf die Natur als auch in seiner Verbindung mit der Kunst der Kalligraphie manifestiert, eine wichtige Rolle bei der Erziehung und Kultivierung des Charakters und der gesamten Persönlichkeit des Menschen. Außerdem spielen mystische Poesie, Integration der Leiblichkeit, religiöse Gesang und religiöse Musik eine wichtige Rolle im Kontext der sufischen Spiritualität. Somit kann das Sufitum als eine ganzheitliche Charakterbildung im Islam aufgefasst werden, die existenzielle, religiöse, ethische und ästhetische Aspekte umfasst. Und vielleicht kann das Sufitum somit zu einer Inspirationsquelle oder gar zu einem moralischen Kompass in der flüchtigen Moderne dienen.
Natürlich lassen sich dabei vor dem Hintergrund der obigen Aspekte auch einige kritischen Fragen erheben: Kann man im Fall vom Sufitum tatsächlich schon von einer Ethik im systematisch, ausgearbeiteten Philosophie sprechen, oder geht es dabei vielmehr um Moral? Wie ist das Verhältnis zwischen dem universellen und dem genuin islamischen Charakter der sufischen Moralität zu bestimmen und zu denken? Inwiefern kann die Implementierung und Kultivierung der auf der spirituellen Läuterung und mystisch-ästhetischen Erfahrungen basierenden Ethos des Sufitums als Präventionsmittel gegen religiöse Radikalisierung fruchtbar machen? Und allgemein: Welche gesellschaftliche Relevanz weist die moralische und die ästhetische Dimension des Sufitum auf? Ferner, kann das Sufitum, als eine ausgeprägte Form der islamischen Spiritualität und Tätigkeitsphäre überhaupt für die aktuelle Krisen und Herausforderungen auf einer Makroebene effektiv agieren? Und schließlich: Was können wir von den gegenwärtigen Sufis in der flüchtigen Moderne überhaupt lernen?
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