Besingen manche den Fortschritt der Demokratie, so beklagen andere den pathologischen Zustand, in dem sich die Demokratie heute befindet. Im Februar 2022 richteten wir den Blick im Lesezirkel auf die Demokratie nicht als statisches Konstrukt, sondern als eine angesichts gesellschaftlicher Veränderung dem Wandel unterworfene und von Krisen umgebene Ordnung. Das Essay „Neue Krisen. Wissenschaft, Moralisierung und die Demokratie im 21. Jahrhundert“ 1 von Wolfgang Merkel bot uns eine erste Grundlage, auf der wir uns im Lesezirkel bewegen konnten.
Merkel geht von der Genese „Neuer Krisen“ aus. Angestoßen sei diese Genese durch das Zusammenspiel dreier externer Faktoren: Migrationskrise, Klimakrise und Covid-19-Pandemie. Dabei seien neue Eigenschaften aufgrund des Fehlens von demokratieangemessenen (hier fehlt was) auf die gegenwärtigen Herausforderungen entstanden: Szientifizierung, Moralisierung und Polarisierung. Hinsichtlich der Problemlösung moderner Krisen wie etwa der Klimakrise, bestehe nämlich, so Merkel, zunehmend die Notwendigkeit einer wissenschaftlich-evidenzbasierten Beratung der Politik. Dies werde nun aber behindert und führe somit zu einem neuartigen Problem. „Gerade dort bedarf die Politik eines besonders breiten und pluralistischen Zugangs von Wissenschaftlern und Wissenschaftsdisziplinen. Wird dieser Zugang aus politischen Gründen strategisch verengt, führt die Verwissenschaftlichung der Politik zur Politisierung der Wissenschaft.“2
Im Rahmen einer regen Diskussion über Merkels Position und die unverzichtbar gewordene Rolle der Wissenschaft im heutigen politischen Prozess, konnten wir im Lesezirkel einen anderen Wandel konstatieren. Nicht nur die Demokratie verändert sich, sondern auch die Art, Politik zu machen, War früher Religion oder Ideologie eine sinnstiftende, politische Legitimationsgrundlage, so werden diese heute durch Wissenschaft abgelöst. „Die Art, wie man Politik macht, hat sich verändert. Die Rückbesinnung auf die Wissenschaft als politische Legitimationsgrundlage ist kein neues Phänomen. Früher hatten diese Funktionen beispielsweise Religionen oder Ideologien inne. In diesem Fall ist Wissenschaft komplementär ersetzbar.“ 3
Die im politischen Prozess unverzichtbar gewordene, als politische Legitimationsgrundlage fungierende Wissenschaft wurde bei unserem zweiten Treffen im März zum Gegenstand der Betrachtung erhoben. Mithin wurden die Erkenntnisse der ersten Diskussion bei einem zweiten Treffen unseres Lesezirkels vertieft, bei dem die Rolle der Wissenschaft im politischen Prozess kritisch beleuchtet wurde. „Epistemisierung der Politischen“ 4 lautet der Titel von Bogners Buch, das als zweite Grundlage in diesem Tertial diente. Bogner geht davon aus, dass bei politischen Streitfragen heute immer weniger die normativen Aspekte und individuellen Handlungsoptionen im Mittelpunkt stünden. Heute gehe es vielmehr um Wissensfragen und die überlegenen Erkenntnisse. Bogner untersucht in seinem Buch ebendiese Epistemisierung des Politischen und hält ihre Gefahr für die Demokratie fest.
Spätestens seit der Corona-Pandemie weiß nicht nur unser Lesezirkel, welche Rolle, Reich- und Tragweite die Aussagen von Experten zu einer unseligen Pandemie haben können. Angeregt von Bogners Überlegungen wurde die Rolle der Wissenschaft im politischen Prozess erörtert. War die Covid-19-Pandemie eine Blaupause für eine neue Herrschaftsform, die Herrschaft der Wissenschaft? Erodiert die Demokratie dadurch? Werden unsere allseits bekannten demokratischen Rechte dadurch beschnitten? Diese und andere Fragen und Beiträge bildeten das Fundament unserer an Bogners orientierten Erörterung.
Eindrücke aus dem Lesezirkel: „An sich finde ich die Fragestellung bzgl. des Expertenrates sehr anregend. Nichtsdestotrotz finde ich die Diskussion hierbei sehr akademisch und nicht zielführend. Wenn man sich die gegenwärtige politische Realität ansieht, stellt man fest, dass solche Verfassungen wie der Expertenrat nicht funktionieren. Im Iran beispielsweise handeln die sogenannten Experten, welche nach den im Buch genannten Qualitätskriterien ausgewählt werden, m.E. nicht unbedingt wissensgerecht und ehrenvoll. Die Einführung eines Expertenrates wäre aus meiner Perspektive nicht realitätsnahe und auch keine gute Alternative zu unserem jetzigen demokratischen System.“ 5
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