von Ahmet Aygün
Es ist ein Trugschluss, zu glauben, dass erst mit Machiavellis Il Principe die Frage der Macht zu einer zentralen Frage der Philosophie avanciert sei, auch wenn dies gängige Praxis in außerakademischen Kreisen zu sein scheint. Bereits in der Antike spricht Platon das Problem der Macht an. In seiner utopischen Schrift Politeia erzählt Platons Glaukon die Geschichte von Gyges, einem Hirten, der einen magischen Ring findet, der ihn unsichtbar macht. Glaukon argumentiert, dass ein Mensch, der solch eine Macht besitzt, unvermeidlich unmoralisch handeln würde, da er keine Furcht vor Konsequenzen haben muss. Dieses Dilemma stellt die Frage nach der Beziehung zwischen Macht, möglicher Gewalt, Moral und Gerechtigkeit. Die Frage der Macht ist eine vielschichtige Frage. Die Untersuchung von Macht kann somit konsequenterweise nicht ganz isoliert erfolgen. Wir im Netzwerk muslimischer Akademiker haben aus diesem Grund neben der Macht auch Gewalt unter die Lupe genommen, da dies grosso modo eines der zentralen gegenwärtigen Dilemmata der politischen Philosophie darstellt. Seit der Antike mit Platons und Aristoteles‘ Schriften über das Mittelalter bis hin zu den modernen Theorien von Machiavelli, Hobbes und Foucault, ist die Frage nach der Natur und der Legitimität von Macht und Gewalt ein kontinuierlicher Gegenstand philosophischer Reflexion und Debatte geblieben. Diese Themen sind nicht nur theoretisch von Bedeutung, sondern auch heutigen Tages von eminenter praktischer Relevanz, da sie die Grundlagen politischer Ordnungen und sozialer Gerechtigkeit berühren.
Unsere Frage nach Macht und Gewalt wollen wir auf der Grundlage von drei Ansätzen untersuchen. Ziel ist es, das Wesen von Macht und Gewalt in der modernen Gesellschaft zu erforschen und die Anwendbarkeit der drei Theorien zu hinterfragen. Dabei wollen wir insbesondere der Frage nachgehen, ob Macht eine inhärente Bösartigkeit besitzt. Neigen Menschen in Machtpositionen automatisch dazu, böswillig zu handeln und ihre aufrichtigen Absichten zu verlieren? Mit anderen Worten: Hat die Macht eine korrumpierende Wirkung auf den Menschen? Und was ist mit dem Begriff der Gewalt? Ist Gewalt vielleicht das eigentlich Böse?
1. Im ersten Schritt haben wir Macht und Gewalt auf staatlicher und institutioneller Ebene versucht zu verstehen, indem wir uns der Lektüre des Werks „Macht und Gewalt“ von Hannah Arendt gewidmet haben. Arendt, eine bedeutende politische Denkerin des 20. Jahrhunderts, betrachtet Macht als ein konstruktives Phänomen, das auf der Fähigkeit der Menschen basiert, gemeinsam zu handeln und politische Entscheidungen zu treffen. Macht entsteht aus der kollektiven Aktion und dem Zusammenwirken von Menschen innerhalb eines politischen Raumes, in dem Diskussionen, Verhandlungen und Kompromisse stattfinden. Sie betont die Bedeutung des öffentlichen Raums, in dem Menschen als politische Wesen agieren und ihre Freiheit und Würde verwirklichen können. In diesem Sinne ist Macht für sie eine positive Kraft, die es den Menschen ermöglicht, ihre Welt zu gestalten und sich als Teil einer politischen Gemeinschaft zu verstehen. Macht ist intrinsisch mit Legitimität verbunden und benötigt keine Gewalt, um sich durchzusetzen. Sie basiert auf Zustimmung und wird durch die Partizipation und das Einverständnis der Bürger gestärkt: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, wie die Gruppe zusammenhält.”¹
Im Gegensatz zur Macht beschreibt Arendt Gewalt als ein Instrument oder Werkzeug, das eingesetzt wird, um bestimmte Ziele zu erreichen. Gewalt ist in ihrer Natur physisch und zerstörerisch. Gewalt kann Macht nicht erzeugen, sondern tritt oft dann auf, wenn die Macht zerbricht oder fehlt. Sie wird verwendet, um Machtverlust zu kompensieren, aber sie ist immer ein Zeichen von Schwäche und nicht von Stärke. Arendt definiert Gewalt als eine Form der Machtausübung, die darauf abzielt, Menschen daran zu hindern, sich politisch zu beteiligen, oder die darauf zurückzuführen ist, dass politische Prozesse versagen. Sie unterscheidet zwischen Macht, die aus gemeinsamer Aktion entsteht, und Gewalt, die durch die Instrumentalisierung von Zwang und Gewaltmitteln erreicht wird. Arendt warnt zudem vor den Gefahren der Gewalt, da diese das Fundament der politischen Gemeinschaft untergräbt und zu autoritären Strukturen führen kann.
„Politisch gesprochen genügt es nicht zu sagen, dass Macht und Gewalt nicht dasselbe sind. Macht und Gewalt sind Gegensätze: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden. Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist.“²
2. Im zweiten Schritt haben wir den Blick auf Robert Greene gerichtet, einen Mann, der für seine Werke über Macht und Strategie bekannt ist und in seinem Buch „The 48 Laws of Power” (zu Deutsch: „Power – Die 48 Gesetze der Macht”) und weiteren Veröffentlichungen eine alternative Perspektive zum Thema Macht und Gewalt präsentiert. Greene betont in seinen Werken häufig die Bedeutung von Macht als zentrales Element menschlicher Interaktion und Erfolg. Unsere Beschäftigung war in diesem Schritt also psychologischer und persönlicher Natur.
Niccolò Machiavelli: „Ein Mensch, der immer nur das Gute möchte, wird zwangsläufig zugrunde gehen inmitten von so vielen Menschen, die nicht gut sind.”³
Greene argumentiert in machiavellistischer Manier, dass es besser sei, Macht zu verstehen und zu nutzen, als von ihr beherrscht zu werden. Er beschreibt verschiedene Strategien und Taktiken, die Menschen anwenden können, um Macht zu erlangen und behalten, insbesondere wenn sie in politischen, geschäftlichen oder persönlichen Kontexten agieren.
„Macht involviert immer eine Beziehung von Menschen.”⁴
In Bezug auf Gewalt ist Greenes Perspektive komplex. Während er Gewalt nicht direkt als Instrument der Macht in seinen Büchern behandelt, beschreibt er den Einsatz von Härte und Entschlossenheit als mögliche Taktiken, um Macht zu sichern und Feinde abzuschrecken. Zudem betont er auch die Bedeutung von Raffinesse und Strategie, um Konflikte zu vermeiden oder zu minimieren. In seiner Darstellung des Themas Macht und Gewalt präsentiert Robert Greene eine pragmatische und oft zynische Sichtweise, die darauf abzielt, die Realitäten der menschlichen Natur und des sozialen Lebens zu verstehen und eigennützig auszunutzen. Dennoch betont er, dass er seinen eigenen Regeln nicht folgen würde. Selbst der Autor würde nicht alle seine Ratschläge in seiner Gesamtheit befolgen, da er selbst sagt: „Anybody who did would be a horrible ugly person to be around.“⁵
3. In Hannah Arendts Werk „Macht und Gewalt“ sind wir auf Frantz Fanon, den Vordenker der Entkolonialisierung, gestoßen. In seinem antikolonialistischen Manifest „Die Verdammten dieser Erde” beschreibt er die dehumanisierende Wirkung des Kolonialismus auf kolonisierte Völker. Für ihn spielt Gewalt eine große Rolle im Prozess der Befreiung. Fanon argumentiert, dass die Unterdrückten die Notwendigkeit der Gewalt erkennen müssen, um die bestehenden Machtverhältnisse zu durchbrechen und ihre Freiheit zu erlangen. Er sieht Gewalt als Mittel zur Umkehrung der Machtverhältnisse. Für Fanon stellt Gewalt ein notwendiges Mittel für die Unterdrückten dar, um ihre Freiheit und Würde zurückzugewinnen: „Die Intuition der kolonisierten Massen begreift also plötzlich, dass ihre Befreiung durch Gewalt geschehen muss und nur durch Gewalt geschehen kann.“⁶. Das geschieht allerdings nicht unbegründet und auch nicht im luftleeren Raum, sondern in der Tradition ihrer Unterdrücker. Denn die Eingeborenen (die unterdrückten indigenen Völker) wissen, dass sie keine Tiere sind, wie sie von den Unterdrückten behandelt werden. Und zu dem Zeitpunkt, wo ihnen klar wird, dass sie Menschen sind, beginnen sie, zu den Waffen zu greifen (vgl. ebd.: 36). Als Psychiater und politischer Denker untersuchte Fanon die psychologischen Auswirkungen der Kolonisierung. Für ihn war der nationale Befreiungskampf ein Prozess der psychischen Heilung und der Wiederherstellung von Selbstachtung und Würde. Die Bildung einer nationalen Identität und der Kampf um Unabhängigkeit halfen, die psychischen Wunden der Kolonialisierung zu heilen. Neben der Lektüre haben wir die gelesenen Werke auch besprochen, einander gegenübergestellt und auch in philosophischer Manier reflektiert. Unschwer haben wir eruieren können, dass Arendts Ansatz zur Macht und Gewalt im klaren Widerspruch zu Fanons revolutionärer Vision steht. Während Arendt die Bedeutung des politischen Prozesses und der gemeinsamen Aktion betont, sieht Fanon Gewalt als ein unvermeidliches Mittel zur Befreiung von Unterdrückung. Wichtig war dabei den historischen Kontext beider Werke zu berücksichtigen.
Abschließend kann man erkennen, dass böswillige und ethisch verwerfliche Taten, die oft als Symptome von Macht und Gewalt betrachtet werden, nicht inhärent aus diesen entstehen. Weder in der Machterlangung noch in der Gewaltausübung liegt das ethisch Verwerfliche als definitorisches Attribut vor. Vielmehr wird in den Erscheinungsformen der Machterlangung und Gewaltausübung das Böse fälschlicherweise als Ursache vermutet. Während Robert Greene erklärt, dass die Welt von böswilligen Akteuren im Machtspiel dominiert wird, stellt Hannah Arendt die Macht als politische Kraft dar, die durch kollektives Handeln und Zustimmung konstruktiv genutzt werden kann. Sie vermutet eher in der Gewalt das ethisch Verwerfliche, welches als einen destruktiven Gegensatz zu der Macht steht. Für sie heben sich die Macht und die Gewalt gegenseitig auf. Frantz Fanon hingegen sieht selbst in der Gewalt als ein Mittel zur Wiederherstellung des Guten, wenn die böse Macht Oberhand gewinnt. Für ihn kann Gewalt in bestimmten Situationen sogar als notwendiges Mittel zur Überwindung von Unterdrückung dienen. In einer Welt, in der oft die Bösen zu dominieren scheinen oder strukturelle Gewalt durch den Kolonialismus Alltag sind, müssen die Unterdrückten manchmal zu extremen Mitteln greifen, um Gerechtigkeit und Freiheit zu erlangen. Diese Ambiguität zeigt, dass sowohl Macht als auch Gewalt stets im Lichte ihrer jeweiligen Umstände und Ziele betrachtet werden müssen, um ihr wahres Wesen und ihre ethische Bedeutung zu verstehen.
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