Meine verehrten Damen und Herren, liebe Funktionäre, liebe Freunde,
der Friede sei mit Ihnen allen! ESA…
Ich möchte mich für die Einladung sehr herzlich bedanken – im
Namen des Bündnisses der Islamischen Gemeinden in
Norddeutschland und im Namen meines Vorstands, des Netzwerks muslimischer Akademiker.
Liebe Freunde, lassen Sie mich meine Ausführungen mit einem
Gleichnis des gesegneten Propheten beginnen, das mit dem
literarischen Symbol des Schiffes an unsere Hansestadt anknüpft:
Zitat: „Das Gleichnis dessen, der Grenzen beachtet, und dessen,
der diese überschreitet, ist wie Reisende auf einem Schiff, die per
Los zugeordnet werden, wer auf das Oberdeck soll und wer unter
das Deck. Jene unter Deck mussten immer über das Oberdeck
gehen, um (ihr Bedürfnis zu stillen:) Wasser zu holen. So kamen sie
nach einer Weile auf einen Gedanken und schlugen den Leuten
vom Oberdeck vor, ein Loch in den Schiffsboden zu bohren, um so
Wasser zu schöpfen, […]“
Der gesegnete Prophet führt aus: „Wenn die Bewohner des
Oberdecks die anderen ihren Plan durchführen ließen, würden sie
alle gemeinsam untergehen; aber wenn sie diese bei der Hand
nähmen und sie davon abhielten, würden sie alle gerettet
werden.“ (Al-Bukhari) (Zitat Ende)
Es geht mir heute nicht um eine theologische Darstellung, vielmehr um die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich hier ableiten lassen.
Gelehrte deuten die Reisenden auf dem Oberdeck ua. als
Führungspersonen, Institutionen, ja vielleicht die Exekutive; die
Menschen unter Deck als das Volk, die Basis.
Es ist zweifellos lebenswichtig, dass das Oberdeck die Belange
des Unterdecks versteht, sie im Auge behält und in einer gesunden Beziehung zu ihnen Regeln setzt. Es ist auch wichtig, dass das Oberdeck die Menschen im Unterdeck nicht gegeneinander ausspielt, dass es Frieden und Harmonie stiftet, dass es ihre Interessen im Auge behält. Das Oberdeck darf nicht in
Wortgefechten ausufern, die das Schiff ins Wanken bringen oder
gefährden könnten. Wenn das Schiff sinkt, sinken alle, ohne
Ausnahme.
Sitzen nicht wir alle in so einem Schiff? Wenn es Deutschland gut
geht, geht es uns allen gut. Geht es der Bevölkerung gut, geht es
dem ganzen Schiff gut, den Passagieren auch auf dem Oberdeck.
Dafür stehen wir hinter unserer Demokratie, die als Staatsform die
Gleichheit aller vor dem Gesetz garantiert.
Die Bürger unserer schönen Stadt sind Mütter, Kinder, Juden,
Atheistinnen, Bauarbeiter, Rechtsanwältinnen, Gärtner usw. und
gehören vor allem dem unteren Deck an. Sie bilden die Basis.
Doch in den letzten Monaten wurde die Basis kräftig
durchgeschüttelt. Heftige Stürme setzten dem Schiff zu.
Chauvinistische Rassisten trafen sich in Potsdam und
beanspruchten das Schiff für sich, um andere von Bord zu werfen.
Das Unterdeck gab sich tapfer, animierte das ganze Schiff zu
großen Demonstrationen. Das Oberdeck freute sich und verlor
doch den ganzheitlichen Blick: Der Bericht des Innenministeriums
zur Muslimfeindlichkeit wurde nach minimaler Wirkung
zurückgezogen. Erst kürzlich gab es wieder einen Brandanschlag
in Solingen, bei dem Menschen muslimischen Glaubens starben.
Die Gemüter sind beunruhigt. 134 islamfeindliche Straftaten allein
im zweiten Quartal des vergangenen Jahres. Zu meinem Bedauern
musste ich nach all dem feststellen, dass die Genossinnen und
Genossen die Muslimfeindlichkeit in ihrem aktuellen
Europawahlprogramm ausgeklammert haben.
Gleichzeitig führte die monoperspektivische Berichterstattung in
Deutschland zu einer Gemütsunterdrückung im Unterdeck. Ein Teil des Unterdecks wandte sich gegen die Gewaltspirale im Nahen Osten und wollte ihrer Verzweiflung durch legale
Meinungskundgebung Ausdruck verleihen. Die politischen
Verhältnisse wurden jedoch entschlossen gegen die
Menschenwürde aufgewogen. Regierungsmitglieder äußerten sich
paternalistisch gegenüber der muslimischen Gemeinschaft.
Der Geist war verwirrt, der Mund verschlossen, der Körper erstarrt,
aber die Augen sahen weiter das Grauen in Gaza.
„Wer viel einst zu verkünden hat
Schweigt viel in sich hinein.
Wer einst den Blitz zu zünden hat,
Muss lange – Wolke sein.“, wie Nietzsche weise dichtet.
Und siehe da, das Narrativ ändert sich… Es öffnen sich Fenster der
Hoffnung: Politische und religiöse Größen wie Vizepräsidentin des
Bundestages Aydan Özoguz, Bischöfin Kirsten Vehrs, der jüdische
Vorsitzende Sammy Jossifoff und der BIG-Vorsitzende Mehmet
Karaoglu konstatierten vor wenigen Tagen im Chor, dass jedes
Opfer eines zu viel sei und Leid nicht gegen anderes Leid
aufgewogen werden dürfe.
Das Schiff fährt also weiter, so viel ist sicher. Die Muslime in Deutschland werden die vergangenen Monate sicher nicht vergessen. Sie stellen eine Zäsur dar. Muslimen ist es nicht gestattet, die Hoffnung aufzugeben… Sie wissen nämlich, dass Gott die Instanz ist, die unermüdlich hilft. Den Zustand in seiner Gänze anzunehmen (riza) und dennoch nach dem Guten zu streben (emr-i bilmaruf) ist das muhammedische Lebensverständnis. Es werden neue Allianzen geschmiedet, neue Wege gesucht und noch mehr soziales Engagement gezeigt, damit es uns allen Hamburgern in der Zukunft besser geht. Gerne möchte ich noch einen weiteren Hoffnungsträger vorstellen: Das Netzwerk muslimischer Akademiker.
Das Netzwerk fährt zweigleisig. Zum einen setzen wir auf die ideelle Förderung von Akademikerinnen und Akademikern, mit dem Ziel, das kritische und nachhaltige Denken in muslimischen Kreisen zu stärken und die muslimische Sicht auf gesellschaftliche Fragen in muslimische wie nichtmuslimische Denkkreise und Institutionen hineinzutragen. (Wir lesen und denken viel in Lesezirkeln und an Themenabenden.) Zum anderen bündeln wir die Kräfte in Berufsgruppen. Im letzten Jahr sind sechs Stammtische entstanden. Hier fördern wir die Vernetzung von Akademikerinnen und Akademikern sowie Unternehmerinnen und Unternehmern muslimischen Glaubens und ermutigen sie, die Gesellschaft mitzugestalten. Zuletzt trafen sie sich zu Meet und Muhabbet und entwickelten Projekte zur Gestaltung der Gemeindearbeit. Die Stammtische bieten intern wie extern Fortbildungen und Gesprächskreise an. So ermutigen sich unsere Mitglieder gegenseitig, Stadt und Gesellschaft stärker im Blick zu behalten. Wir erreichen derzeit über 500 Hochschulabsolventinnen und -absolventen in und um Hamburg.
Ich möchte meine Ausführungen mit dem ehrenwerten Dichter und Denker des Organischen, des Ganzheitlichen abschließen. Johann Wolfgang von Goethe beschreibt in einem Gespräch mit
Eckermann, einem engen Vertrauten, wie ein gewaltsames
Eingreifen des Unterdecks seinen Sinn verliert, wenn das Oberdeck
wachsam und aufmerksam ist. Zitat: „Auch ich war vollkommen
überzeugt, dass irgendeine große Revolution nie Schuld des Volkes ist, sondern der Regierung. Revolutionen sind ganz unmöglich, sobald die Regierungen fortwährend gerecht und fortwährend wach sind, sodass sie ihnen durch zeitgemäße Verbesserungen entgegenkommen und sich nicht so lange sträuben, bis das Notwendige von unten her erzwungen wird.“ (Zitat Ende)
Liebe Freunde, lassen wir uns von niemandem ein Loch in den
Schiffsboden bohren.
Heute ist der 28. Ramadan. Wir Muslime verabschieden uns vom
Monat der Läuterung der Herzen, der Gebete und der weit
geöffneten Pforten Gottes. Sie als Jusos haben uns hier in diesen
schönen Räumlichkeiten des Bucerius Law Schools zu einem IftarMahl versammelt. Für uns Muslime steht der Iftar für die
Verbindung von Tüchtigkeit und Spiritualität. Es ist die höchste
Form der Dankbarkeit. Und Sie teilen unsere Dankbarkeit, das ist
eine besondere Geste…
In diesem Sinne bedanke ich mich nochmals für die Einladung und
freue mich auf die Gespräche mit Ihnen…
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